Editorial, Kommentar: 21.07.2016

»Live«: Zuerst im Internet und dann im Fernsehen?

Die Übertragung großer Live-Events ist eine der letzten Bastionen linearer TV-Sender, wenn es darum geht, sich von Online-Angeboten abzuheben. Aufwändige Multikameraproduktionen im Sport- und Unterhaltungsbereich, die Millionen von Zuschauern live verfolgen, dürften wohl noch für eine längere Zeit eine Domäne der TV-Sender bleiben. Das bewies jüngst auch die Fußball-Europameisterschaft wieder eindrucksvoll.

Im News-Bereich hingegen, scheint sich eine Entwicklung in anderer Richtung zu verfestigen: Dort wächst das Live-Streaming von mobilen Geräten aus zu einer neuen Kraft heran — angesichts dramatischer Ereignisse in aller Welt. Über Facebook, Youtube und andere Plattformen oder direkt von Handy zu Handy, kann sozusagen jeder live und ungefiltert streamen, seine eigenen Inhalte über die sozialen Medien verbreiten, noch während sie geschehen und andauern.

Über diesen Weg finden die Videoschnipsel dann teilweise auch wieder ihren Weg ins lineare Fernsehen.

Ein in vieler Hinsicht bemerkenswertes Beispiel hierfür: Der türkische Präsident Erdogan meldete sich via Facetime zu Wort, als Teile des Militärs in seinem Land einen Putschversuch unternahmen. Zu sehen war das live bei CNN Türk und zwar auf dem Smartphone einer Moderatorin des Senders, die ihr Handy während der Sendung in die Kamera hielt. Erdogan konnte die Bevölkerung auf diese Weise innerhalb kürzester Zeit und live zum Widerstand gegen die Putschisten aufrufen.

In der Audioindustrie hat sich Streaming – etwa über Spotify – schon längst etabliert.

Ein anderes, ebenfalls dramatisches und sehr bemerkenswertes Beispiel für Live-Streaming ereignete sich vor kurzem in den USA: Dort streamte eine Frau via Facebook, wie ihr Lebenspartner von einem Polizisten im Verlauf einer völlig aus dem Ruder laufenden Verkehrskontrolle erschossen wurde und verblutete.

Das sind Vorgänge und Bilder, die Fragen auf ganz unterschiedlichen Ebenen aufwerfen — natürlich auch solche, die außerhalb des thematischen Fokus von film-tv-video.de liegen und deshalb nicht Teil dieses Newsletters sein sollen.

Ein weiteres Beispiel: Beim Anschlag in Nizza war der BR-Journalist Richard Gutjahr zufällig vor Ort und konnte mit seinem Handy den Lastwagen filmen, der in die Menschenmenge gesteuert wurde. Gutjahr streamte aber nicht live, sondern übergab das Material an ARD-Aktuell, die gemeinsame Nachrichtenredaktion der ARD. Die Tagesthemen und andere Sendungen entschieden sich dann, diesen Clip oder zumindest Teile davon zu zeigen.

Solche Ereignisse lösen auch Debatten darüber aus, was man wann wo zeigen kann, soll, darf und muss. Solche Debatten sind einerseits dringend notwendig, gehen aber andererseits auch oft an der Realität vorbei. Als Nachrichtenredaktion kann man sich eben in letzter Konsequenz allenfalls noch fragen, ob man Material, das ohnehin schon im Netz unterwegs und verfügbar ist, auch im Fernsehen zeigen will, vielleicht in einer für den normalen, unvorbereiteten Zuschauer erträglicheren, anonymisierten Form.

Tatsächlich müssen sich Nachrichtenmacher aus aller Welt aber damit auseinandersetzen, dass sie in immer mehr Fällen keinerlei Echtzeit-Monopol mehr für Nachrichten haben. Fast immer gibt es irgendjemanden, der über Facebook, Youtube oder Twitter sogar viel schneller ist.

Wird dadurch das klassische Nachrichtenfernsehen auf Dauer überflüssig? Das glauben eigentlich nur Medienskeptiker. Die Gegenposition fasste Jim Egan, CEO von BBC Global News gegenüber film-tv-video.de einmal so zusammen: »Schneller als irgendein Augenzeuge vor Ort mit einem Smartphone, können wir eben nicht sein. Deshalb ist es unsere Aufgabe, solche Informationen zu verifizieren, zu ergänzen und einzuordnen. (…) Wir veröffentlichen News nur dann, wenn wir sicher sein können, dass sie korrekt sind. Und so werden wir auch wahrgenommen — unsere Zuschauer und Leser gehen davon aus: „Wenn BBC World eine Nachricht veröffentlicht, stimmt sie auch.“ Das dürfen wir nicht enttäuschen.«

Diesen Anspruch in der Praxis zu erfüllen, ist natürlich alles andere als leicht. Es zumindest beständig anzustreben, könnte für die Zukunft der Medien aber möglicherweise umso wichtiger sein.

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