Editorial, Kommentar: 08.03.2018

Automatische Selbstfütterung

Die meisten Leser von film-tv-video.de dürften die Gefahr kennen und eigene Methoden zum Umgang damit entwickelt haben: In der westlichen Welt sind wir heute einer massiven medialen und kommunikativen Reizüberflutung ausgesetzt. Das hat den Wettstreit um Aufmerksamkeit drastisch verschärft: Wir leben sozusagen in einer Aufmerksamkeitsökonomie.

Die Schwerpunkte innerhalb der internet-basierten Kommunikation haben sich in der Folge ebenfalls immer weiter verschoben: Überhaupt gefunden und wahrgenommen zu werden, ist dabei eindeutig eine große Herausforderung. Unter all den Mitteln, mit denen man das erreichen und weiter ausbauen kann, hat sich offenbar die Geschwindigkeit zum ultimativen Fetisch entwickelt.

Frei nach dem Motto: Wenn wir die Ersten sind, dann bekommen wir die meisten Kontakte, Leser, Page Impressions. Also müssen wir alles tun, um die Trends zu erkennen und dann die Ersten zu sein, die dazu einen Inhalt anbieten können.

Man braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass das natürlich sehr oft schädlich für den Inhalt ist: Wenn Speed die höchste Priorität hat, dann bleibt leider so gut wie keine Zeit mehr für Recherche und Verifizierung.

Automatische Selbstfütterung
Reizüberflutung an allen Stellen.

Diese Reizüberflutung und die bisher ausgeführten, damit verbundenen Probleme könnten sich in Zukunft noch verschärfen. Ein Treiber dafür sind moderne Systeme zur Content-Erzeugung: Viele Verlage setzen heute Technologien ein, mit denen man Texte automatisch erzeugen kann. Mit Fußballberichten etwa, funktioniert das erstaunlich gut. Das können Sie hiersogar selbst ausprobieren.

Auf der Basis von Spieldaten, die Deltatre bereitstellt, erzeugt auf der genannten Seite eine Software, die zuvor entsprechend mit Phrasen gefüttert und trainiert wurde, auf Knopfdruck einen Spielbericht. Und wenn sie wollen: noch einen und noch einen und noch einen …

Sobald das Spiel zu Ende ist, steht somit auch der jeweilige Spielbericht bereit — und zwar für zahllose Spiele bis hinunter in Ligen, bei denen die Anwesenheit eines Sportreporters nicht unbedingt gewährleistet ist — der ja zudem auch noch Zeit bräuchte, um den Bericht zu schreiben und dann auch noch Geld dafür verlangen würde …

Für Verlage und Medienhäuser aller Art ist das natürlich verlockend: Hunderte Spielberichte ohne Personalkosten und in Rekordzeit zu erzeugen. Erster zu sein. Mit Wetterdaten soll das auch schon sehr gut funktionieren und in vielen anderen Bereichen gibt es ebenfalls schon erste Umsetzungen.

So wird letztlich eine unfassbare Flut von Maschinen erzeugter Textinhalte das Internet fluten. Auch Sie haben mit hoher Wahrscheinlichkeit schon welche davon gelesen, denn das ist keine Zukunftsmusik, sondern Realität.

Aber wer soll das überhaupt alles lesen, um dann möglicherweise enttäuscht festzustellen, dass es sich um ein und denselben, identischen Inhalt in x Varianten handelt?

Die gute Nachricht: Das muss gar niemand lesen. Es gibt nämlich auch die Umkehrung dieser Textgenerierungsmaschinen. Web-Crawler, die Texte lesen, kopieren, dann die sogenannten Füllwörter eliminieren und den Text auf seine Keywords reduzieren. Die meldet die Crawler-Software dann an ihren Auftraggeber zurück und der kann dann wiederum — vereinfacht gesprochen — daraus Trends ablesen und automatisiert Texte hierzu generieren lassen.

Lässt man das gedanklich eine Weile hin und her laufen, dann entpuppt sich das Ganze als gewaltiger Content-Bulldozer, der einerseits alles einebnet und andererseits Themen zu Trends auftürmt, die in Wahrheit kaum echte Leser haben.

Sollten Sie das irgendwie gruselig und dystopisch finden, lesen Sie derweil einfach die Texte von film-tv-video.de. Die werden von Menschen geschrieben, bearbeitet und publiziert.
 
Sie werden sehen.

Autor
Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller
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