Editorial, Kommentar, Top-Story: 28.06.2013

Datensauger? Whatever?

Nein, so richtig überrascht habe es sie nicht, sagen derzeit viele der kritischen, wachen Geister unserer Gesellschaft zu den Enthüllungen des früher für den US-Geheimdienst tätigen Edward Snowden. Es sei schon irgendwie skandalös, aber wirklich überrascht habe es sie nicht.

Während es die einen also immer schon ahnten oder wussten, scheint es den meisten anderen so gut wie gleichgültig zu sein, dass ein möglicherweise großer Teil ihrer privaten und geschäftlichen Kommunikation mit hoher Wahrscheinlichkeit vom britischen und US-amerikanischen Geheimdienst mitgeschnitten wurde — und das ist ja nur das, was bisher durchsickerte. Schulterzucken und »da kann man eh nichts machen«, sind die wahrscheinlich am weitesten verbreiteten Haltungen gegenüber der nun bekannt gewordenen Internet-Überwachung und Datenschnüffelei von staatlicher Seite.

Was ist da passiert? Kann es sein, dass hier eine Abstumpfung stattgefunden hat und eine Gleichgültigkeit eingezogen ist, die — entschuldigen Sie dieses große Wort — demokratiegefährdendes Potenzial hat?

Als film-tv-video.de im Jahr 1999 online ging, arbeiteten wir mit einem Cookie, der den einzigen Sinn hatte, den Nutzern das lästige Einloggen zu ersparen: Einmal eingeloggt, konnte man so auf alle Inhalte zugreifen, ohne bei jedem Besuch der Website erneut Nutzername und Passwort eingeben zu müssen. Damals erhielten wir viele skeptische und kritische Rückfragen zu diesem Cookie und nicht wenige Nutzer fanden es etwa auch unstatthaft, dass wir bei der Registrierung eine Telefonnummer abfragten.

Wenn man dagegen heute eine populäre Seite wie »Spiegel Online« besucht, so erbrachte es ein heute durchgeführter Selbstversuch, hat man nach dem Aufruf der Startseite und von drei weiteren Artikelseiten, nicht weniger als 35 verschiedene, neu auf dem Rechner installierte Cookies. Viele davon tragen kryptische Bezeichnungen, die keinerlei Hinweis auf die Funktion geben.

Außerdem werden wir auf diversen Websites mit unserem eigenen Facebook-Profilfoto aufgefordert, Artikel zu empfehlen oder Kommentare zu hinterlassen. Per Werbebanner werden uns auf unterschiedlichsten Seiten Flüge angeboten, über die wir uns vor kurzem auf einer ganz anderen Plattform informiert hatten. Übrigens brauchen Google und Facebook — nur zur Sicherheit, falls jemand unseren Account missbrauchen sollte — unsere Telefonnummern.

Und juckt das alles noch irgendjemanden? Oder ist das Cookie-Thema dem Erfolg von »Spiegel Online« in nennenswertem Maße abträglich?

Wahrscheinlich haben selbst die Leute, die sich früher über die Registrierung und den Cookie von film-tv-video.de aufregten, mittlerweile virtuell die Hosen gegenüber Facebook, Google und der Werbewirtschaft freiwillig und gegenüber der NSA und dem GCHQ unfreiwillig so weit heruntergelassen, dass sie schockiert wären, wenn — nun ja, wenn — sie mal darüber nachdächten.

Gern hört man in diesem Zusammenhang Argumente wie: »Ich mache ja nichts Illegales und habe nichts zu verbergen, was soll mir also passieren? Außerdem kann ja Verbrechensbekämpfung und Prävention nicht falsch sein und muss mit modernsten Mitteln durchgeführt werden.« Gegenfrage: Weshalb gelingt es diesen großen Überwachungsmechanismen dann ganz offenbar nicht, die Verbreitung von Kinderpornografie im Netz zu unterbinden und Raubkopierern das Handwerk zu legen. Sind das etwa keine verfolgenswerten Verbrechen? Oder stehen vielleicht doch ganz andere Themen auf der Agenda?

Man kann sich auch einfach mal selbst befragen, was wohl passieren würde, wenn Fanatiker irgendeiner Couleur in Machtpositionen gelangen würden und dann über Daten verfügen könnten, die derzeit »zum Schutz der Demokratie« gesammelt werden?

Wem es hierbei an Fantasie mangelt, dem helfen vielleicht Filmtipps oder Empfehlungen für die teilweise zugrunde liegenden Bücher: »1984«, »Brazil«, »Minority Report«, »Der Staatsfeind Nr. 1«, »V wie Vendetta«, »Matrix«, »Gattaca« etwa — um nur ein paar wenige zu nennen, die sich ganz oder in Teilaspekten mit solchen Themen befassen.

Ein Blick in die Nachrichten zeigt schließlich, dass totalitäre Tendenzen leider keineswegs nur das Thema dystopischer Literatur und Filme sind, sondern bittere Realität.

Sie werden sehen.