Report, Sport, Top-Story: 05.08.2008

Fußball-EM-Filme aus Amateurmaterial: Sommermärchen Reloaded

Detlev Buck und Sönke Wortmann haben unabhängig voneinander zwei ungewöhnliche Fußball-EM-Dokumentationen aufgelegt. Bei beiden stammt das komplette Material von Amateurfilmern — und zeigt auch die Möglichkeiten und Grenzen der Filmproduktion mit »user-generated content«.

Mit der gleichen Grundidee, aber anderen Konzepten und Ergebnissen, realisierten die deutschen Regisseure Sönke Wortmann und Detlev Buck unabhängig voneinander jeweils eine Rückschau auf die Fußball-Europameisterschaft: einmal fürs Web und einmal fürs Kino.

Sönke Wortmann und der Springer-Verlag

Zuerst arbeitet man für einen guten Namen, dann arbeitet der gute Name für einen. Dieses Sprichwort hat sicher einen wahren Kern, wenn es um Sönke Wortmann und Fußballfilme geht. »Das Wunder von Bern« und »Deutschland, ein Sommermärchen« weisen Wortmann als Kinoexperten für das runde Leder aus. Wenn so einer eine Fußball-EM-Dokumentation plant, dann interessiert das heute auch Unternehmen, die mit dem klassischen Kino wenig zu tun haben.

Zunächst plante Wortmann mit Google einen Kompilationsfilm über die Fußball-Europameisterschaft 2008. Besonderheit des Projekts: Das Material sollte von Laien bereitgestellt und über ein Internet-Portal hochgeladen werden. Im Unterschied zu Wortmanns WM-Film »Deutschland, ein Sommermärchen« aus dem Jahr 2006, der 4 Millionen Zuschauer ins Kino lockte, sollte beim EM-Film nicht die Nationalelf im Mittelpunkt stehen, vielmehr war es das Ziel von »Sommermärchen 2008«, die Europameisterschaft aus der Perspektive der Fanmeilen, Kneipenrunden und Wohnzimmer zu erzählen.

Dass das Projekt im Pingpong von Google zum Axel Springer Verlag wechselte und schließlich auf einer Website der »Bild am Sonntag« mit der Adresse www.sommermaerchen.bild.de seine Heimat fand, ist eine andere Geschichte.

Über die genannte Website und das zugehörige Presseorgan rief Wortmann dazu auf, sich während der heißen Fußballwochen im Sommer 2008 beim Bangen, Jubeln und sonstigen kreativen Aufarbeiten des Sportereignisses selbst zu filmen und die Beiträge über das Portal einzureichen.

Aus »mehreren Hundert Videos« hat die Hamburger Firma Telemaz dann zusammen mit Wortmann als Regisseur und mit »Bild am Sonntag« als Auftraggeber, schließlich drei Teile kompiliert. Das erste Kapitel ging am 6. Juni online, die dritte und letzte Folge am 13 Juli. Mit einer Gesamtlänge von knapp über 20 Minuten, aber einem Postproduktionsaufwand von etwa 280 Stunden, ist das Projekt zumindest in dieser Hinsicht rekordverdächtig.

Hatten die Macher bei den prominenten Partnern und der Reichweite des »Bild«-Portals nicht mit einer solchen Materialschwemme rechnen müssen? Eugen Stemmle, Chairman und Executive Producer bei Telemaz bestätigt: »Überrascht waren wir wirklich zunächst darüber, wie viel Material von den Fans eingeschickt und hochgeladen wurde.«

Gab es vorab ein dramaturgisches Konzept für das »Sommermärchen 2008«, oder musste man beim Schnitt spontan dem Material folgen? Dazu Daniel Reusch, der als Editor bei Telemaz direkt für den Schnitt verantwortlich war: »Das waren zunächst sehr viele Jubelszenen, also viel spontan aufgenommenes Material. Die inszenierten Szenen waren vom Anteil her etwas dünn.« Und Eugen Stemmle ergänzt: »Davon hätte man sich natürlich mehr erhofft. Deshalb haben wir uns auch früh dafür entschieden, das Ganze in solch eine clippig geschnittene Richtung zu schieben.«

Vor welche technischen Probleme stellten das Amateurmaterial die Postproduktion? Es handelte sich ja zumeist um mit Foto-Handys aufgenommene Szenen. Daniel Reusch schildert das Verfahren: »Wir haben bereits während der EM damit begonnen, die täglichen Einsendungen in unser Avid-Unity-Netzwerk einzustellen. Um das Material da hinein zu bekommen und es nicht schlechter zu machen, haben wir es zunächst auf PAL-Auflösung aufgeblasen. So haben wir zwar große Datenmengen produziert, waren aber gleichzeitig in der Lage, von allen Arbeitsplätzen aus darauf zuzugreifen. Dann wurde es am Avid Media Composer bearbeitet.«

Zumeist drei Mitarbeiter arbeiteten am Sommermärchen-Schnitt, mit Sönke Wortmann gab es regelmäßige Abstimmungen.

Da man ausschließlich mit Fremdmaterial arbeitete, waren vorab die persönlichen Rechten mit den Einsendern zu klären. »Dazu hatte der Verlag bei der Einsendung eine Einverständniserklärung vorgeschaltet. Die Einsender mussten einen Button anklicken und gaben so ihr Einverständnis zur Nutzung«, berichtet Telemaz-Chairman Stemmle.

Tatsächlich bietet »Sommermärchen« von den Bildern her wenige Überraschungen. Im Grunde zeigen alle drei Teile »more of the same«: jubelnde, bangende, enttäuschte Fans, verrückte Kostüme, Löw-Persiflagen, Schweini-Persiflagen, Amateur-Kommentatoren. Im Grunde eben die Bilder, die man erwartet, wenn eine fußballverrückte Nation sich selbst filmt.

Allerdings ist die fertige Kompilation brillant rhythmisiert und geschnitten, unter anderem auf Musik von Beethoven, Debussy und der deutschen Band Revolverheld. In gelungenen Momenten knüpft das EM-Sommermärchen vielleicht sogar an seinen WM-Vorgänger an, bei dem es dank der intelligenten Montage gelungen war, das sich das Material selbst kommentiert. Optisches (und leicht überstrapaziertes) Leitmotiv sind die — von einem 17-jährigen Hannoveraner Schüler — drollig im Stopp-Motion-Verfahren mit Lego-Figuren nachgestellten Torszenen der deutschen Mannschaft.

Letztlich ist es einzig die ziel- und stilsichere Montage, die »Sommermärchen 2008« zumindest zu einem gelungen Stück Web-TV werden lässt. Ins Kino wollten Wortmann und Telemaz mit dem Werk sowieso nicht — und das ist auch gut so. »Im Gegensatz zu Buck sind wir von Anfang an als reines Online-Projekt gestartet. Vielleicht hat er über YouTube aber auch ganz anderes Material eingesammelt, weil die Zielgruppe bei YouTube eine andere ist, vielleicht in filmtechnischer Hinsicht etwas ambitionierter«, sinniert Eugen Stemmle abschließend.

Detlev Buck und Youtube

Nicht kleckern, sondern klotzen, hat sich offenbar Detlev Buck gesagt, der unter anderem mit »Wir können auch anders«, »Knallhart« und »Hände weg von Mississippi« schon seine Bandbreite illustriert hat. Er übernahm das Google-Projekt und ging in Kooperation mit der Google-Tochter YouTube sein EM-Fan-Projekt an. »23 Tage« heißt Bucks Kompilation und transportiert im Untertitel auch gleich die Marke des Auftraggebers mit: »Das YouTube Fan-Tagebuch«.

Google und Buck planten von Anfang an für die große Leinwand. Und tatsächlich läuft »23 Tage« seit dem 31. Juli bundesweit im Kino – trotz gegenteiliger Prognosen: »Das wird nie im Leben ein Kinofilm«, zitierte »Spiegel Online« den thematischen Konkurrenten Sönke Wortmann.

Die Skepsis bezog sich vor allem auf die für eine Kinoproduktion eigentlich viel zu schlechte Qualität der Amateurfilme. Außerdem schien es mehr als zweifelhaft, ob die notwendigen Etats für Verleih und Marketing flüssig gemacht werden könnten.

Letzteres haben Buck und Google elegant und geschickt mit der Einbindung der CineStar-Kinogruppe gelöst. CineStar zeigt den Film exklusiv in seinen Häusern in Berlin, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Kassel, Leipzig, Mainz und München. Die symbolischen 2,30 Euro Eintrittsgeld gingen zu gleichen Teilen an den Verein »Laut gegen Nazis e.V.« und an die gemeinnützige Initiative »Streetfootballworld«.

Inhaltlich und qualitativ wird die etwa einstündige Produktion von einigen Protagonisten gestützt, die durchaus gelungene Film-im-Film-Passagen beisteuerten. Da sind zum Beispiel die beiden Freunde, die sich auf ihren Mofas von Hamburg aus zum Endspiel in Wien aufmachen und dabei einen witzigen Roadmovie gedreht haben. Oder der türkische Kommentator Tiger, der aus seinem Kreuzberger »Süper EM Stüdyo« die Spiele seiner Elf launig kommentiert.

Insgesamt wurden über Bucks Projektportal 832 Filme mit zusammen 82 Stunden Material hochgeladen, wobei die deutschen Fanfilmer mit fast der Hälfte des Materials (382 Filmen) zumindest hier Europameister wurden. Während der kompletten EM und der darauf folgenden zwei Wochen wurde dann selektiert, bearbeitet und geschnitten.

Unter welchen Gesichtspunkten wurde der Film montiert? Dazu Detlev Buck: »Bei der Auswahl des Materials war uns wichtig, dass eine Idee zu spüren ist, eine Dynamik erzeugt wird. Emotionen waren wichtig.« Gab es nie Zweifel, dass das Material für die große Leinwand nicht tauge? »Die eigentliche Herausforderung bei der Produktion war die Dramaturgie und der Rhythmus des Films«, resümiert Detlev Buck.

Handy-Movies auf dem Weg in den Mainstream?

Stellen Wortmanns und Bucks Filme den Auftakt einer neuen Welle »hausgemachter« Amateurproduktionen dar, bei denen Profis als filmische Paten, Impresarios, Sammler, Präsentatoren auftreten?

Im Web-TV, bei YouTube oder MySpace, haben solche Produktionen aus Nobodys schon Superstars gemacht, wie etwa im Fall der Popband »Arctic Monkeys«. Amateurfilme fürs Kino sind seit dem »Blair Witch Project« auch eine bekannte Größe. Im Privatfernsehen werden mit Homevideos ganze Sendereihen bestritten: Gefilmte Sportunfälle und allerlei andere Pannen, Kinder- und Tieraufnahmen von Laien schaffen es inzwischen bis in bessere Sendezeiten.

Hat das auch Konsequenzen für die Filmwirtschaft? Detlev Buck zumindest ist sich bei der zunehmenden Bedeutung nutzergenerierter Inhalte für das Filmgeschäft sicher: »Es wird beim Film auch weiterhin den klassischen Geschichtenerzähler geben. Man will sich auch durch eine Geschichte einfach treiben lassen.«

Als Vertreter einer Werbefilmproduktion sieht Eugen Stemmle das differenzierter. Amateurmaterial ist für ihn vor allem als ästhetisches Stilmittel bedenkenswert: »Das ist die Frage nach dem Viralen als Stilelement. Es gibt inzwischen Firmen, die sich darauf spezialisiert haben. Die haben dafür eigene Units gebildet, weil man mit den herkömmlichen Tools einer Produktion, die für große Kunden auf 35 mm produziert, eine andere Qualität abliefern muss.« Aber auch er stellt klar: »Im Grunde ist unser Vorgehen als Werbefilmproduktion aber genau entgegengesetzt. Wir angeln ja nicht einfach nach Material, sondern arbeiten mit Regisseuren und Storyboards und detaillierter Planung.«