Branche, Report, Top-Story, Virtual Production: 08.09.2010

Deutsche Welle: Virtual Set, die Zweite

Die Deutsche Welle hat sich bei der Modernisierung ihrer Virtual-Set-Technik für eine Lösung von NeuroTV entschieden und realisiert damit bereits fünf laufende TV-Magazine. Nun sollen sukzessive neue Designs eingeführt und die erweiterten Möglichkeiten der neuen Technik ausgeschöpft werden.

Vor gut 15 Jahren wurden im Rahmen der Broadcast-Messe NAB die ersten virtuellen Sets vorgestellt: Bluebox-Systeme, bei denen man mehrere Kameras einsetzen, zoomen und Kamerafahrten realisieren konnte. Den jeweils passenden Hintergrund errechneten teure Monsterrechner in Echtzeit. Das Echo war enorm – Fernsehmacher erhofften sich dank der neuen Technologie immense Einsparungen, Set-Designer erwarteten ganz neue Möglichkeiten in der Gestaltung, manch einer sah eine völlig neue Ära der Studioproduktion anbrechen. Nach der ersten Euphorie kam – wie so oft – die Ernüchterung, mit Praxisproblemen und Firmenpleiten auf der Herstellerseite.
Mittlerweile ist die Virtual-Set-Technologie aber etabliert und in einem Entwicklungsstadium angekommen, das stabilen Betrieb mit erschwinglicher Technik erlaubt. Virtual Sets sind praxiserprobt und gehören bei immer mehr Broadcastern zum normalen Arbeitsumfeld. Spätestens seit die Technologie auch in den Heute-Nachrichten des ZDF angekommen ist, ist sie einem größeren TV-Publikum bekannt. Auch bei RTL am neuen Standort Köln-Deutz wird virtuelle Set-Technik in größerem Umfang zum Einsatz kommen (Report).
In Berlin gibt es mit dem TV-Programm DW-TV der Deutschen Welle einen Anwender, der schon seit etlichen Jahren täglich mit Virtual-Set-Technologie arbeitet. DW-TV produziert derzeit fünf Magazinsendungen mit virtueller Technik, alle werden aber nicht live gesendet, sondern vorproduziert und aufgezeichnet.
Der TV-Sender hat schon vor Jahren in ein virtuelles Set des Herstellers Radamec investiert – schon bevor dieser von Vinten übernommen wurde. Tilo Timm, bei der Deutschen Welle verantwortlicher Projektleiter für die Einführung der virtuellen Set-Technik: »Wir haben mit dem Radamec-System lange Zeit erfolgreich gearbeitet. Schließlich war dann eine Modernisierung erforderlich, wir brauchten neue Pedestals für den automatisierten, ferngesteuerten Betrieb. Neben hoher Präzision des Robotik-Systems war es für uns aus Kostengründen essenziell, dass wir weiter mit dem Radamec-Protokoll arbeiten konnten.« Außerdem nutzt DW-TV das gleiche Studio für virtuelle, wie für normale Studioproduktionen: Auf einer Seite des Studios ist ein Bluescreen installiert, auf der anderen befindet sich eine reale Newsdesk-Kulisse. Beide werden mit den selben Robotik-Kameras genutzt.
Letztlich machten Cambotics-Systeme das Rennen, denn dieser Hersteller war zum Zeitpunkt des notwendigen Umstiegs als einziger in der Lage, die Bedingungen und Anforderungen von DW-TV zu erfüllen: Die Cambotics-Systeme müssen nur einmal pro Tag auf einer Marke am Studioboden auf Null gesetzt werden, dann bewegen sie sich präzise und mit höchster Wiederholgenauigkeit im Studio – ohne permanent über Infrarotsysteme, Reflektor- oder Barcode-Systeme kontrolliert und korrigiert werden zu müssen, so Tilo Timm. Außerdem erlaubten die Cambotics-Systeme den problemlosen Einsatz im realen und virtuellen Bereich des Studios.
Zunächst wurden die drei Cambotics-Systeme an das vorhandene Virtual-Set-System angebunden. Als später dann auch hier ein Wechsel nötig wurde, suchte DW-TV im Jahr 2008 per Ausschreibung ein Virtual-Set-System, an das der Fernsehsender neben anderen Anforderungen auch die Forderung stellte, die Cambotics-Pedestals weiter nutzen zu können.

Virtuelles Set: Nachfolger gesucht

»Anfang 2008 veröffentlichten wir unsere Ausschreibung. Systeme von Brainstorm, Orad und NeuroTV kamen dann in die engere Wahl«, berichtet Tilo Timm. Neben der Cambotics-Einbindung und vielen weiteren grundlegenden Anforderungen, war in der Ausschreibung auch enthalten, dass die einfache Einbindung eines virtuellen Cartoon-Charakters möglich sein sollte, der mit dem Moderator interagieren kann. DW-TV denkt hier an die schon im Wissenschaftsmagazin »Projekt Zukunft« des Senders eingeführte, eigene Figur »Einsteinchen«, die eventuell später hierfür genutzt werden soll. Weiterer Aspekt war die Möglichkeit eines einfachen, stufenweisen Umstiegs. »Wir können weder wochenlang auf das Studio verzichten, noch können wir auf einen Schlag alle Sendungen neu designen und komplett umstellen«, erläutert Tilo Timm: »Das würde unsere personellen und finanziellen Ressourcen übersteigen.«
Am Schluss machte der belgische Hersteller NeuroTV das Rennen und konnte zum Zeitpunkt der Ausschreibung als einziger alle Bedingungen erfüllen. NeuroTV wird in Deutschland von Chyron/Netorium vertreten.

NeuroTV: Installation und Inbetriebnahme

Nachdem die Entscheidung für NeuroTV gefallen war, ging es darum, das System möglichst »sanft« zu installieren – also den laufenden Studio- und Sendebetrieb nicht zu stören. Das erforderte genaue Planung und höchste Anstrengung für alle Beteiligten, denn die Studioauslastung bei der Deutschen Welle ist extrem hoch: An Wochentagen werden im VR-Studio tagsüber die Magazinsendungen aufgezeichnet, zwischen 17:00 und 3:00 Uhr werden arabische und spanische Nachrichten aus dem Studio gesendet. Insgesamt ist das Studio unter der Woche rund 18 Stunden pro Tag belegt. Ausgiebige, umfassende Tests unter Realbedingungen waren da im Vorfeld weder zeitlich noch personell realisierbar.
Für den tatsächlichen Umstieg von der alten Radamec-Lösung auf NeuroVS stand also gerade mal ein Wochenende zur Verfügung: Zwischen Freitagnachmittag und Montagfrüh mussten alle notwendigen Softwares installiert, die drei Robotik-Systeme eingebunden und die grundlegenden Funktionen getestet werden. »Wir mussten ein kalkuliertes Risiko eingehen und haben es tatsächlich geschafft, den ersten, entscheidenden Schritt des Umstiegs an nur einem Wochenende über die Bühne zu bringen. Am Montag waren wir wieder betriebsbereit«, erinnert sich Timm.
Weil sich die Technologie des alten und des neuen Virtual Sets doch deutlich unterscheiden, wurde zunächst eine Hilfskonstruktion verwendet, um die alten Hintergründe auch im neuen Set weiter benutzen zu können: Im 3D-Raum des neuen NeuroVS wurden drei virtuelle Monitore so platziert, dass sie jeweils für eine der drei Kameras den kompletten Hintergrund ausfüllen. In diese »Monitore« werden dann bei jeder der fünf Magazin-Sendungen die bisher verwendeten Targa-Sequenzen gelegt. So war es möglich, dass sich trotz neuer Technik der On-Air-Look der Magazine zunächst nicht änderte: Das Globalisierungs-Magazin »Global 3000«, die Wissenschaftssendung »Projekt Zukunft«, die Wirtschafts-Sendung »Made in Germany«, das Reisemagazin »Hin & Weg« und die Musiksendung »PopXport« liefen so auf der neuen Technik, für die Zuschauer blieb aber der bekannte Look erhalten.
NeuroTV eröffnet aber über die bisherigen Möglichkeiten hinaus, viel mehr Gestaltungsoptionen im 3D-Raum. Diese will sich DW-TV nun nach und nach erschließen, ohne die Zuschauer und die eigenen Ressourcen zu überfordern.
Die erste Sendung, für die DW-TV mit dem neuen System ein vollständiges virtuelles 3D-Set gestaltet hat, war »Projekt Zukunft«. Dabei gab es durchaus noch Lern- und Anpassungsprozesse, was bei einem so komplexen, vielfältigen System aber auch nicht weiter verwundert: Letztlich ist es eben eine große Herausforderung, Techniker, Grafiker und IT-Leute unter einen Hut zu bringen und mit der optimalen Nutzung der neuen Möglichkeiten vertraut zu machen.
»Gerade in den Anfängen galt es, neben dem normalen Übergangsbetrieb – der glücklicherweise von Anfang an nahezu reibungslos lief – einige Hürden zu überwinden, um die neuen Möglichkeiten zu erschließen. So mussten die 3D-Grafiken an die Leistungsfähigkeit des Systems angepasst und für die Echtzeit-TV-Anwendung optimiert werden«, erläutert Tilo Timm.
Eine technische Hürde stellt dabei die unterschiedliche Präferenz von NeuroTV und der Grafik-Abteilung von DW-TV dar: Die Sets werden mit der Software Cinema 4D erstellt. NeuroVS selbst ist aber windows-basiert, nutzt DirectX als Programmierschnittstelle, setzt auf separate Renderer und kommt – vereinfacht gesprochen – besser mit Sets zurecht, die mit der Autodesk-Software 3ds Max erzeugt wurden. Die 3D-Sets müssen daher erst aus der einen in die andere Software-Welt transformiert werden. Hier gab und gibt es eine enge Kooperation von DW-TV mit dem Hersteller NeuroTV und es mussten schon einige Klippen umschifft werden.
Andere Punkte zeigten sich erst im Praxisbetrieb: So galt es etwa, unterschiedliche Delays der im VR-Set installierten Geräte zu ermitteln und zu berücksichtigen, oder in bestimmten Konstellation auch Ruckeleffekte bei Zoomfahrten auszumerzen. »Wir hatten nicht erwartet, dass der Umstieg vollkommen reibungslos verlaufen würde und waren daher schon prinzipiell darauf vorbereitet, dass man solche Aspekte noch würde lösen müssen«, berichtet Tilo Timm. »Mittlerweile schleifen sich aber die Abläufe zunehmend ein und wir kommen innerhalb unseres Zeitplans gut voran.«
Fünf Operatoren wurden mittlerweile auf dem neuen System eingelernt und können nun das System nicht nur im bisher praktizierten Übergangsmodus betreiben, sondern auch in den erweiterten Möglichkeiten nutzen. Anfang August wurde mit dem Wirtschaftsmagazin »Made in Germany« die zweite Sendung auf ein vollwertiges 3D-Set umgestellt. Als nächstes wird vermutlich die Musiksendung »PopXport« folgen und vollständig virtuell werden.
»Virtual-Set-Systeme bieten viele Vorteile, wenn man wie wir mit einem kleinen Team, hoher Produktionsdichte und intensiver Studioauslas­tung unter einem engen Kostenrahmen operiert. Für uns gibt es letztlich gar keine Alternative zu Virtual-Set-Produktion: Nur mit einem Virtual-Set wie NeuroVS schaffen wir mit dem vergleichsweise kleinen Personalstab, den wir zur Verfügung haben, die Produktionsmenge, die wir bewältigen müssen. Wer aber glaubt, er könnte mit einem virtuellen Set von Anfang an viel Geld sparen, der hat keinen Bezug zur Praxis«, urteilt Tilo Timm.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Wie bei jeder neuen Technologie müssen sich alle Beteiligten an die Frage herantasten, was möglich ist – und was nicht. Erst wenn diese gemeinsame Schnittstelle gefunden ist, kann die Technik funktionieren.

Technische Aspekte und Workflows von NeuroTV

NeuroTV entwickelt Echtzeit-3D-Lösungen und High-End-Produkte für den Broadcast-Bereich. Basis der Entwicklungen ist NeuroEngine, ein leistungsstarker 3D-Engine, der auf DirectX-Gaming-Technologien basiert. Dieser 3D-Engine bildet die Basis, um 3D-Charakteren, 3D-Grafiklösungen und dem virtuellen Studio von NeuroTV Leben einzuhauchen.
NeuroVS ist das virtuelle Studio von NeuroTV. Es arbeitet mit DirectX Shadern und liefert daher aus Herstellersicht eine sehr gute visuelle Qualität. NeuroTV ist auch das einzige System, das 3D-Toons auf direktem Weg und ohne Motion Capturing in sein virtuelles Set integrieren kann. Der Hersteller hebt weiter hervor, dass bei der Virtual-Set-Software NeuroVS jede Kamera ihren eigenen 3D-gekeyten Ausgang hat und zudem jede Kamera mit einer unterschiedlichen 3D-Szene belegt werden kann.
Den grundlegenden Workflow skizziert NeuroTV so: Der Grafiker designt die 3D-Szenen und -Sets, idealerweise in 3ds Max. Die Szenen und Objekte werden dann in Paketen exportiert und ins Master Sys-tem transferiert. Dort synchronisiert jeder Renderer die dazugehörige Szene. Dann kann die Szene vom Operator innerhalb weniger Minuten angepasst und genutzt werden. Im letzten Schritt können der Operator oder ein automatisiertes System dafür sorgen, dass die Szenen während der Live-Show frame-genau eingespielt werden.
Andere virtuelle Sets nutzen im Unterschied zu NeuroVS die OpenGL-Technologie, doch aus Sicht von NeuroTV bietet DirectX viele Vorteile. Allerdings ist DirectX auf die Windows-Plattform abgestimmt, was in der eher mac-orientierten Grafikwelt teilweise auf Vorbehalte stößt.
Was den Im- und Export von Grafiken betrifft, ist NeuroTV fürs Zusammenspiel mit Autodesk 3ds Max optimiert. Dafür bietet das System Exporter, die sehr leistungsfähig sind und für schnellen Datenaustausch zwischen den Systemen sorgen. DW-TV arbeitet allerdings mit Cinema 4D, was bei der Integration der neuen Sets mehr Bearbeitungsschritte erforderte.