Film, Top-Story: 04.05.2016

Dokfest München 2016: Vorschau und Empfehlungen

Am Donnerstag den 5. Mai 2016 beginnt das 31. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus 151 Filmen aus 46 Ländern. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternen ab.

Horse Being

B_0516_Dok_HORSEBEING
Jetzt spricht das Pferd.

Karen Chessman, ehemaliger Lehrer, kommt von Frankreich in die USA auf eine Farm, um sich dort von einem Cowboy zum Pferd ausbilden zu lassen. Zu diesem als Pet-Play bezeichnetem Rollenspiel gehört auch ein besonderes Outfit: man trägt Zaumzeug und als Hufe nachgebildete Schuhe, die allein schon fünf Kilo schwer sind. Karen ist 51 Jahre alt und meint, das er nie von jemandem geliebt worden sei – und falls das doch jemand behaupte, erwecke dies sein Misstrauen. Pferd sein, das sei auch Form von Unterwerfung, meint Karen. Aber kein Geld zu haben und betteln zu müssen, das sei realer SM.
***

Koudelka shooting Holy Land

Koudelka shooting Holy Land.
Koudelka im Heiligen Land.

Josef Koudelka ist für seine Fotos vom Einmarsch der sowjetischen Truppen in Dubček‘s Prag berühmt geworden. Der Filmemacher begleitet ihn als Assistent und Dolmetscher bei seinem neusten Foto-Projekt, das die Sperranlage zwischen Israel und Palästina zum Thema hat. Mit vier Kameras behängt lungert der weißhaarige Koudelka an der Mauer herum, sucht einen guten Blick und wartet auf den richtigen Moment für seine 6x17cm Panorama Aufnahmen. Dafür kriecht er auch schon mal mit Körpereinsatz in einen Stacheldrahtverhau. Immer wieder wird dabei auch er vom Militär kontrolliert. Und seine weitwinkligen schwarz weißen Rollfilmaufnahmen sind genau kardierte grafisch ausgeklügelte Ansichten einer surrealen Welt, und man freut sich über die Kontaktbögen, die Einblick in die Auswahl des Meisters geben. Er macht es sich nicht einfach und sucht immer wieder die gleichen Orte auf, denn er weiß, an welchem Platz ein Bild auf ihn wartet; er muss die Geduld mitbringen. Der Film selbst ist unaufgeregt, fast ausschließlich mit festen Brennweiten in langen Einstellungen statisch vom Stativ gedreht, und Action-Höhepunkt ist ein Regenschauer unterm Blechdach.
***

Wild Plants

B_0516_Dok_WILD_PLANTS
Berufung Pflanzen.

Alle Menschen, denen man in diesem Film in unterschiedlichen Ländern begegnet, haben etwas mit Pflanzen zu tun und fassen ihre Tätigkeit mehr als Berufung auf. Die Pflanzen dienen der Ernährung oder wärmen im Winter, aber mehr als dieser Nutzen spielt der ewig währende Kreislauf eine Rolle, das Wachsen und Vergehen und Wiederentstehen. Da gibt es zum Beispiel den Guerilla-Gärtner, der nachts durch die Schweizer Stadt streicht und auf Mittelstreifen und Verkehrsinseln Samen ausbringt und an Hand eines Messtischblatts farbige Blütenkompositonen für Straßenzüge plant. Alle Besuche bei den Protagonisten sind eingebettet in die Abfolge der Jahreszeiten vom Frühling bis in den Winter.
***

Cafe Waldluft

B_0516_Dok_CAFE_WALDLUFT
Untersalzberg und Asylbewerber.

Das Cafe Waldluft ist oberhalb der Watzman Therme etwas außerhalb von Berchtesgaden am Untersalzberg gelegen und war ein beliebtes Ausflugsziel für Tages- und Pensionsgäste. Die Wirtin ist in die Jahre gekommen und weil sie nach dem Tod des Ehemanns die Sache ruhiger angehen will, hat sie vor zwei Jahren die Zimmer für insgesamt 35 Asylbewerber hergegeben, die sie nicht nur bewirtet, sondern auch mütterlich betreut und deshalb von allen Mama genannt wird. Anfangs haben die Nachbarn die Veränderung nicht alle akzeptiert und es gab böse Anrufe. Hin und wieder finden sich alte Gäste auf der Terrasse ein und werden bewirtet und es kommt zwischen einer jungen australischen Touristin und den Asylbewerbern zu einem herrlichen Gespräch mit einem komischem Missverständnis der Situation, bei dem das Gesagte völlig aneinander vorbeiläuft.
***

Grundrauschen

Grundrauschen.
DPA: was vom Tag übrig bleibt.

Eine nichtssagende Glasfassade in der Berliner Markgrafenstrasse: dahinter spielt sich alles ab, was in den 90 Minuten aus dem Alltag der Deutschen Presseagentur erzählt wird. Die Arbeit der Journalisten ist, wie bei allen Büroarbeitern heute, hauptsächlich auf Tastatur und Bildschirm fokussiert, und von Bildschirmen wimmelt es im Großraumbüro. Eingestreut in lange Beobachtungen werden Gruppen von Besuchern, Praktikanten und ausländischen Delegationen geführt und bieten so Gelegenheit, Informationen über die Struktur, die Aufgaben und die Schwerpunkte von DPA einzustreuen und über das Leistungsspektrum zu berichten: täglich 1.900 Fotos, 50-60 Audiobeiträge, Videos und viel Text, Fakten, keine Kommentare, Nachrichten prüfen, dann erklären und einordnen.
In die Betrachtung der eigenen Tätigkeit haben sich die Begriffe der Wirtschaft längst eingeschlichen. Es wird vom Umsatz gesprochen und von Kunden. Immerhin gehört DPA von den weltweit vergleichbaren 150 Agenturen zu den 17 wirklich unabhängigen, hinter der keine Regierung, Partei oder Interessengruppe steht.
***

Vom Töten leben

Vom Töten leben.
Oberndorf: Die Waffenhochburg am Neckar.

Oberndorf am Neckar ist mit den Firmen Heckler&Koch und Mauser ein Zentrum der deutschen Waffenproduktion und industriell einseitig ausgerichtet. Fast alle Familien sind irgendwie durch die Arbeitsplätze in die Herstellung von Waffen verstrickt. Damit hatte sich 1984 der Film »Fern vom Krieg« beschäftigt. Jetzt kommt der Filmemacher zurück nach Oberndorf und trifft 30 Jahre später auf bekannte und neue Gesichter und eine Stadt, hinter deren Fassade es bröselt, nicht nur weil es über ein Gewehr und seine Zielgenauigkeit eine öffentliche Debatte gab. Immer wenn es zwischen öffentlichem Konsens und individuellem Verhalten eine große Diskrepanz gibt, kommt es zu Verwerfungen, zu Rechtfertigungsstrategien bis hin zu Angriffen auf Mahnmale. Der Filmemacher führt kommentierend durch die Zeiten und stellt uns seine Bekanntschaften vor. Im Ort selbst hat sich über die Jahre nicht so viel geändert, Chancen zur Umorientierung hat man verpasst und mit der sinkenden Wirtschaftskraft der Unternehmen geht schleichend ein Verfall einher.
***

Weitere Besprechungen auf Seite 4