Branche: 28.06.2022

Wie dokumentarisch kann der Dokumentarfilm noch sein?

Hans-Albrecht Lusznat sorgt sich um den Dokumentarfilm: Braucht die Branche ein Gütesiegel und eine Selbstverpflichtung?

Dreh, © HAL
Hans-Albrecht Lusznat und und Tonmann Silvio Reichenbach bei der Arbeit.

Hans-Albrecht Lusznat ist seit 1978 als freiberuflicher Kameramann tätig. Er hat neben seiner Tätigkeit als Fotograf und Autor an mehr als 400 Dokumentationen, Dokumentar- und Industriefilmen als Kameramann und Steadicamoperator mitgewirkt. Über die Jahre hat er in diesem Arbeitsfeld Entwicklungen und Trends beobachtet, die ihm teilweise ganz und gar nicht gefallen, mit denen er hadert und die er kritisiert. Diese fasst er in diesem Artikel zusammen unter der im Titel genannten — letztlich rhetorischen — Frage. Also: Wie dokumentarisch kann der Dokumentarfilm noch sein?

Dreharbeiten, Landfrauen Küche, © HAL
Dreharbeiten bei der Produktion der »Landfrauen Küche« mit Drohne.

Der Artikel philosophiert und zeigt verschiedene Gefahren für den Dokumentarfilm als Genre auf. Um eine der Grundfragen, die dieser Artikel behandelt, plakativ darzustellen und auf den Punkt zu bringen, steigt Lusznat mit einer BR-Serie ein und erzählt eine Anekdote, die sich ganz ähnlich zugetragen hat. Er bleibt aber an diesem Punkt bei weitem nicht stehen und stellt Fragen — auch an sich selbst — und teilweise sind diese Fragen durchaus auch unbequem.

Dreharbeiten, Landfrauen Küche, © BR
Regisseur Boris Tomschiczek, Kameramann Hans-Albrecht Lusznat und Tontechniker Silvio Reichenbach bei den Dreharbeiten für »Landfrauen Küche«.
War ich gut?

Die Serie »Landfrauen Küche« des bayerischen Rundfunks ist natürlich eine Unterhaltungsserie und behauptet auch nicht, ein Dokumentarfilm zu sein. Ich würde es als »formatiertes Serienprogramm mit realen Menschen« bezeichnen. Dafür habe ich 2008 die erste Folge gedreht, und seither ist diese »Dokutainment-Serie« immer noch erfolgreich, und ich habe später — immer mal wieder — eine davon gedreht.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp Thurmaier
Die »Landfrauen« des Jahrgangs 2021.

Um eines ganz klarzustellen: Ich will diese Serie in keinster Weise geißeln, aber ich will einige der Problemfelder aufzeigen, die eben letztlich auch den Dokumentarfilm betreffen.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp_Thurmaier
Immer weitere Rollenprofessionalisierung der Protagonistinnen.

Im Verlauf der Jahre habe ich etwa beobachtet, das bei der »Landfrauen Küche« eine immer weitere Rollenprofessionalisierung der Protagonistinnen stattgefunden hat. Bei der ersten Folge hatten wir im Grunde noch einen echten Dokumentarfilm gedreht: Niemand wusste, wie sich die Sache entwickeln würde. Wir Macher hatten zwar eine Folge des Schweizer Vorbildes gesehen, aber die Landfrauen hatten sich letztlich auf etwas ganz Neues eingelassen, das sie nicht überblicken konnten. Sie hatten entsprechend auch einen frischen, unverstellten Zugang zu den Dreharbeiten.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp_Thurmaier
Die Landfrauen von heute kennen die »Landfrauen Küche« bereits aus zahlreichen Fernsehfolgen der letzten zwölf Jahre.

Das hat sich über die Jahre massiv verändert. Die Landfrauen von heute kennen eben die BR-Serie »Landfrauen Küche« bereits aus zahlreichen Fernsehfolgen der vergangenen zwölf Jahre.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp_Thurmaier
Alle Teilnehmer haben damit letztlich die gleiche »Zuschauerschule« durchlaufen.

Alle Teilnehmer haben damit letztlich die gleiche »Zuschauerschule« durchlaufen und können schon im Vorfeld den Verlauf der Serie abschätzen und sich selbst zu dem Gesehenen und dem zu erwartenden Geschehen positionieren.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp Thurmaier
Die Landfrauen erhalten Aufmerksamkeit für ihren Hof, ihren Hofladen, ihre Event-Location oder ihre Gastzimmer für Ferien auf dem Bauernhof.

Dabei läuft im Unterprogramm ganz offenbar die Einschätzung als Win-Win-Situation ab: Der Sender bekommt Programm, das den Zuschauern offenbar gefällt, und die Landfrauen erhalten Aufmerksamkeit für ihren Hof, ihren Hofladen, ihre Event-Location oder ihre Gastzimmer für Ferien auf dem Bauernhof.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp Thurmaier
»War ich gut?«

Und in der Folge läuft dann im Hintergrund für die Menschen vor der Kamera auch eine Selbstoptimierungsmaschine ab. »War ich gut?«, ist eine oft gestellte Frage an Kameramann und Regisseur.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Anne Deiß
Die Landfrauen wissen, wie sie sich — und ihre Speisen — präsentieren wollen und können.

Von Staffel zu Staffel liefen die Drehs immer perfekter ab — letztlich ohne dass man das hätte groß inszenieren müssen: Die Landfrauen wissen, wie sie sich präsentieren wollen und können.

In der Folge habe ich Ausgestaltungen von Dinnerräumen gesehen, die wie Bühnenbilder einer Oper anmuteten.

Dreharbeiten, Landfrauen Küche, © HAL
Dinnerzimmer einer Protagonistin mit künstlichem Wald, Laubboden und ausgestopften Tieren aus dem November 2015.

Auch in der Sprache hat sich ein eigener Jargon herausgebildet, denn es gilt ja immer wieder den Geschmack von Speisen zu beschreiben — und das will gelernt sein. Manche der Landfrauen sprechen mittlerweile von sich aus druckreif mit wohltemperierten Sätzen.

Meist muss man auch nicht einmal mehr darauf hinweisen, dass die Fragen des Interviewpartners weggeschnitten werden und sich der Sinn der Antwort aus dem Gesagten ergeben muss: die Landfrauen wissen Bescheid. Und im zwölften Jahr hat man irgendwie auch das Gefühl, alle Formulierungen schon einmal gehört zu haben. Die eindrucksvolle, autodidaktische Medienschulung der Landfrauen wirft die Frage auf: Sind das noch echte Landfrauen, oder stellen sie einfach nur Landfrauen dar?

Natürlich hat nicht das Fernsehen allein diese Entwicklung befeuert: Viele Jahre Social Media haben ihren Anteil daran. Nur wer weiß, wie man sich präsentieren kann, der kriegt auch auf Facebook, Instagram und Tiktok das entsprechende Echo.

Landfrauen Küche, Produktionsjahr 2021, © BR/megaherz/Philipp Thurmaier
Die mediale Selbstoptimierung des modernen Menschen ist weit gediehen.

Die mediale Selbstoptimierung des modernen Menschen ist hier insgesamt schon so weit gediehen, dass man sich fragen kann: Ist das noch authentisch? Und damit kommen wir zu einem der Kerne dieses Artikels: Was ist denn heute noch authentisch, was ist noch dokumentarisch? Generiert sich die Medienwelt nicht mittlerweile in zahllosen Verästelungen immer wieder selbst?

Und ein interessanter Aspekt dabei: Wo früher nur »böse« Redakteure oder Regisseure von Real-Life-Formaten die Protagonisten vorwärts trieben, um besonders »schönes« oder skandalträchtiges Material zu bekommen, besorgen das in vielen Fällen nun die Protagonistinnen und Protagonisten selbst. Hier ist nicht nur der Mensch des Menschen Wolf, sondern es gibt sogar eine enorme Form der Selbstzerfleischung und des Selbstkannibalismus: Hauptsache es bringt »Likes«.

Mach mir den Tuareg

Es ist ein ziemlich kompliziertes Geflecht von Wechselwirkungen, aus denen wir glauben, einen Überblick über unsere Welt gewinnen zu können — auch wenn er letztlich nichts anderes ist, als das, was wir eben sehen wollen. Dazu eine Geschichte, deren weitgehende Übereinstimmung mit der Realität keineswegs zufällig ist: Diese leicht verfremdete Episode aus meiner Berufslaufbahn zeigt eine weitere Gefahr, in der das Dokumentarfilm-Genre zunehmend steht.

Tuareg, © Pixabay/wbwolfgang
»Mach mir den Tuareg.«

Ein deutscher Fernsehsender will einen Dokumentarfilm in Afrika drehen, in dem die moderne Lebensform mit der traditionellen verknüpft dargestellt werden soll. Dazu schreibt man ein Exposé.

Romantik ist den beauftragten deutschen Autoren nicht fremd, und Gutmenschen sind sie obendrein — und so steht recht schnell das Gerüst für die Geschichte: Ein durch die Industrialisierung seiner Wurzeln beraubter Einheimischer besinnt sich auf seine Fähigkeiten, kehrt zurück in sein Dorf und lebt dort glücklich bis an sein Lebensende.

Das Wissen der Mitteleuropäer über Afrika ist meistens nicht sehr tief, selbst wenn sie im Urlaub schon mal dort waren. In Kenia etwa gibt es 42 Stämme, alle mit eigener Sprache. In Deutschland kennt man als Durchschnittsbürger aber leider nur einen einzigen Stamm, den der Massai. Und auch wenn »Die weiße Massai« gar keine war, bleibt der Name dieses Stamms hängen und ist nun bekannt — nicht aber deswegen, weil man sich über die Massai wirklich informiert und interessiert hätte, sondern weil es Buch- und Filmtitel gibt, die hier entstanden sind, und das verkauft sich hierzulande nun eben besser.

Ähnlich ist das in Deutschland mit den Tuareg, einem oft nomadisch lebenden Berbervolk, das in Nordafrika, in der Sahara und im Sahel lebt. Es gibt Motorräder, Autos und Campingartikel, die so heißen, das Wort ist in Deutschland also einigermaßen geläufig. Also ist der Mann im Drehbuch ein Tuareg, der in Algerien lebt. Am besten arbeitet er als Tellerwäscher oder Abräumer in einem Fastfood-Restaurant der Hauptstadt, hat sich mühsam ein kleines Vermögen angespart, um sich dann ein Kamel zu kaufen um damit durch die Wüste in sein Dorf zurück zu wandern. Vielleicht war der Autor tatsächlich auch schon mal selbst in Afrika.

Dreharbeiten in Afrika, © HAL
Wie kann man »echtes Afrika« dokumentieren?

Diese Geschichte ist in Wahrheit aber letztlich der ziemlich kleinste gemeinsame Nenner aller Vorurteile, die man in Deutschland über ein Land der sogenannten dritten Welt haben kann — alles schön eingebettet in ein individuelles Schicksal.

Der Redaktion gefällt das Exposé und sie bestellt den Film. Das Thema ist exportfähig, deshalb wird auf Hochglanz mit zukunftsträchtiger Technik gedreht, damals war das halt HD, heute wäre es 4K.

Eine Produktionsmaschinerie setzt sich in Gang. Es geht um relativ viel Geld — zumindest für den Doku-Bereich — aber mit wenig Spielraum. Ein Fernsehteam aus Europa kommt am Flughafen an, winkt mit einem 50-Euro-Schein (das ist dort locker ein Monatslohn) und sucht nach einem passenden Tuareg. Und siehe da, es findet sich relativ schnell einer, der sagt: »Ich mach Euch den Tuareg!« Casting-Show auf afrikanisch, Kamel gekauft, ab durch die Wüste, zehn Tage Zeit, um alles drehbuchgemäß einzufangen. Der Film wird geschnitten, er gefällt und wird gesendet.

Das Schlimmste zum Schluss: Tausende von Deutschen sitzen vorm Fernseher und stellen übereinstimmend fest: »So habe ich mir das vorgestellt, so ist Afrika!« Die Klischeefalle ist zugeschnappt.

Theoretisch betrachtet

Diese beiden Geschichten erzähle ich hier, um die aus meiner Sicht wesentlichen Probleme deutlich zu machen, die das Dokumentarische im Dokumentarfilm schrumpfen lassen und zum Verschwinden bringen:

Problem 1
Betrachtet man den Dokumentarfilmer wie einen Wissenschaftler, der mit der Kamera Realitätsszenarien vermisst, dann stellt sich die Frage, wie genau die Messungen die Realitäten abbilden. Der Messende sowie das Messgerät nehmen immer in irgendeiner Weise Einfluss auf das Messergebnis. Und so stellt sich die Frage: Wie verändert sich der Messgegenstand durch die Messung?

Im Dokumentarfilm ist der Messgegenstand fast immer ein Mensch in besonderen Situationen. Solange die Personen vor der Kamera nicht wussten, was genau ein Dokumentarfilm in Bezug auf sie bewirken kann, haben sie sich früher nach anfänglichem Fremdeln so verhalten, wie sich Personen eben anderen gegenüber verhalten, die sie gerade kennengelernt haben und die ihnen ein gewisses Interesse entgegenbringen.

Solange die Messergebnisse nur einer relativ kleinen Gruppe von Menschen zugänglich und nur mit relativ großem Aufwand (Schneidetisch, Kinovorführung) abrufbar waren, hatten die Ergebnisse kaum Rückwirkungen auf die Betroffenen (1930 bis Anfang 80er Jahre).

Plakatfoto, © HAL
Selbstoptimierung: im Social-Media-Umfeld normal.

Inzwischen hat sich die Situation aber grundlegend geändert und stellt sich vollkommen anders dar. Heute ist letztlich jeder einerseits Clip-Konsument und andererseits auch sein eigener Filmproduzent — wenn er will und ein Handy besitzt. Dann stellt er seine eigenen Clips auf Social Media vor oder betreibt vielleicht als Sender einen eigenen Youtube-Kanal und erhält auch ein genaues Feedback seiner Wirksamkeit in Hinblick auf seine Community. Daraus erwächst zwangsläufig ein Drang zur Selbstoptimierung: bei den Protagonisten und bei den Produzierenden, die ja oft in Personalunion auftreten.  Und all diese selbstoptimierten Menschen sind jetzt auch die Protagonisten unserer Dokumentarfilme.

Deshalb behaupte ich: Einen dokumentarischen, unverstellten Blick kann man vielleicht nur noch in ganz wenigen Momenten von diesen Personen erhaschen, oft dann, wenn die Selbstinszenierung ermüdet. Wahre Nähe gibt es vielleicht sogar nur noch in Krisensituationen.

Problem 2
Dokumentarfilme werden heute immer weniger aus der Neugier Einzelner realisiert, sondern sie sind ein Geschäft mit vielen Abhängigkeiten und einem massiven Zwang zum Erfolg.

Um den Wissenschaftlervergleich noch einmal zu bemühen: Man muss heute in vielen Fällen Messergebnisse liefern, die gewollt sind — sonst bleibt das Geld für weitere Untersuchungen aus. Es wird nicht mehr ergebnisoffen gemessen, und ein Irrtum mit Messungen ohne vernünftiges Ergebnis verbietet sich. Vielmehr muss das Ergebnis schon anfangs feststehen: Nicht in allen Einzelheiten, aber zumindest mit einer gewissen Tendenz oder Wahrscheinlichkeit. Also werden immer öfter die Realitäten so verbogen, dass sie zum prognostizierten Ergebnis passen. Der Wissenschaftler will gut sein und misst deshalb sensationelle Werte. Nur dafür bekommt er den Beifall.

Problem 3
Der Filmemacher, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Christian Doermer hat einmal den Dokumentarfilm als Material definiert, das in der Zukunft Wissenschaftlern als Basis für Untersuchungen dienen muss.

Aber gilt das heute noch? Kann man diesem Anspruch als Dokumentarfilmer noch entsprechen?

Instagram, Pyramidenbilder, © HAL
So sehen Pyramidenbilder heute …

Heute stellen sich viele Dinge nämlich in einer anderen Perspektive dar. Das ist zu einem gewissen Maß unvermeidlich, denn einerseits schreitet die Zeit immer weiter voran und die Dinge ändern sich zwangsläufig — und damit auch das Selbstverständnis und die Perspektive zu den Dingen und Sachverhalten. Aber die Geschwindigkeit, in der sich das verändert hat, ist enorm, und ein Beispiel kann das illustrieren:

Instagram, Pyramidenbilder, © HAL
… auf Instagram aus …

In einem Fotoalbum aus den 60er-Jahren steht Mutti vor der Pyramide: Mutti ist klein, aber die ganze Pyramide ist im Bild, schwarz/weiß, 6×6, ein Kontaktprint von einem Negativ, extrem scharf. Das ist Dokumentarfotografie pur. Man kann den Zustand der Pyramide in den Fotos genauso ablesen, wie den von Mutti.

Instagram, Pyramidenbilder, © HAL
… die Perspektive hat sich verschoben.

In heutigen Instagram-Bildern ist die Pyramide hingegen nur noch eine reine Kulisse, und die Personen im Bild sind nicht sie selbst, sondern das, was sie sein wollen oder glauben, darstellen zu müssen. Es wird ein Bild erzeugt, mit dem Ziel, es an andere zu vermitteln. Am praktischen Beispiel gibt es vornehmlich drei Arten, sich in Bezug auf die Pyramiden im Bild zu verewigen: Luftsprünge vor Freude, das Ausbreiten der Arme für den Segen der Welt oder die Vorstellung, man könne die Pyramide am spitzen Ende fassen.

Und vielleicht gelingt es später gar nicht mehr, aus den vielen Millionen Instagram-Beiträgen einen Blick auf die Wirklichkeit unserer Zeit zu rekonstruieren.

Das dokumentarische Filmschaffen überdenken

Man könnte es bei diesem Ende belassen, aber damit sind wir der Frage nach dem Realitätsgehalt der Realität und dem Dokumentarischen im Dokumentarfilm keinen Schritt weiter. Und ist es nicht sogar so, dass die Verfälschung im Dokumentarischen letztlich systemimmanent ist: Man wählt einen Bildausschnitt und eine Perspektive — und selbst die können schon wertend sein und eine Geschichte erzählen, die nicht der Realität entspricht. Im Schnitt geht es dann natürlich munter weiter, schließlich ist es ja das Wesen des Films, dass man eine Geschichte erzählen will – und in Wahrheit wird halt im Dokumentarfilm nur selten einfach die Realität abgebildet.

Natürlich ist das Erzählerische auch aus meiner Sicht nicht verwerflich. Aber man muss eben wissen, dass es so ist, und man sollte als Filmemacher so viel Disziplin und Wahrheitswillen haben, dass man das gesamte Machwerk noch als echten Dokumentarfilm betrachten und man selbst dahinter stehen kann.

Bilder, die lügen, sind keineswegs ein neues Thema. Schon mit frühen Beispielen aus der Fotografie kann man das untermauern. So kennt man die Bilder aus Diktaturen, aus denen später als unpassend gefundene Personen nachträglich entfernt wurden, zugedeckt per Retusche. Und mit der Digitalisierung der Fotografie ist das alles ganz einfach geworden.

Aber an der Auffassung, dass Bilder lügen, stimmt etwas nicht — und das sagen Semiologen wie Umberto Eco und Sol Worth schon seit den 1980er Jahren: Ein Bild kann nur das behaupten, was auf seiner Oberfläche sichtbar ist, und es kann nie sagen, dass etwas nicht ist, also eine Aussage verneinen. Man kann also nicht sagen, dass ein Bild lügt, sondern immer nur, dass jemand mit einem Bild lügt.

Spiegelbild, © HAL
Wie sehen wir uns als Dokumentarfilmer heute selbst?

Übertragen auf den Dokumentarfilm könnte man also den Beteiligten einiges unterstellen:

  • Die Kamerafrau oder der Kameramann lügen durch Bereinigung der Szenen, durch Eingriffe in die vorgefundene Realität, durch Einsatz der Optik und ihrer Stilmittel zur sogenannten Verschönerung, durch das Schaffen einer vermeintlichen Klarheit durch Ausschnitt, Bildwinkel und Weglassen bis hin zum Anwenden digitaler Tricks.
  • Die Protagonistin oder der Protagonist lügt durch Selbstverstellung, durch permanente Angst vor dem, was seine Peergroup von ihm oder ihr denken würde, und durch die Anstrengung, sich selbst zum eigenen Besten ins rechte Licht zu rücken.
  • Die Regisseurin oder der Regisseur lügen durch Dramatisierung der Banalität, durch Übertreibung und mit allem fragwürdigen Handwerkszeug aus unerträglichen Workshops zur Erzähloptimierung und durch das Hindrängen der Protagonisten zu Film-gerechtem Handeln.
  • Cutterin oder Cutter lügen durch Weglassen, durch Montage, durch das Neu-Arrangieren der Szenen bis hin zur Änderung verbaler Aussagen.
  • Die Redakteurin oder der Redakteur lügen durch Einfordern eines Drehbuchs und das Bestehen auf prognostizierten Ergebnissen.

All das wissen wir längst und dennoch glauben wir immer noch — oder wollen wir glauben — dass ein Dokumentarfilm die Wirklichkeit abbildet. Und das sollten wir uns auch gar nicht nehmen lassen, denn alles andere wäre die bekannte Verkürzung: die lügen doch alle, mit der man einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität so bequem und selbstgerecht aus dem Wege gehen kann, um sich in den festgefahrenen Ansichten der eigenen Wahrnehmungsblase suhlen zu können.

Dennoch ist es aus meiner Sicht an der Zeit, das dokumentarische Filmschaffen zu überdenken, bevor das Vertrauen der Zuschauerschaft ganz verloren geht. Denn den Dokumentarfilmen liegt ein nicht explizit geschlossener Vertrag mit der Zuschauerin und dem Zuschauer zu Grunde: Was gezeigt wird, hat eine Entsprechung in der Realität und ist nicht eine behauptete Fiktion der Macherinnen und Macher.

In der Dokumentarfotografie wurden die Gefahren frühzeitig erkannt, die in den Manipulationsmöglichkeiten der digitalen Bildbearbeitungs-Software steckt, und deshalb gibt es dort einen Ethik-Codex, der den Agierenden als Selbstverpflichtung auferlegt ist. Darin ist genau festgeschrieben, welche Bildbearbeitung erlaubt ist (The National Press Photographers Association NPPA). Von Redaktionen wird dieser Codex unter Umständen sehr streng gehandhabt und umgesetzt. Immer wieder sind Fotografinnen und Fotografen entlassen worden, weil sie ihre Bilder manipuliert haben, und manche mussten internationale Pressefotopreise zurückgeben, weil man den Manipulationen in den Siegerfotos auf die Schliche kam.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass auch im Dokumentarfilmbereich eine ähnliche Selbstverpflichtung verlangt und Regeln definiert werden, die klar abgrenzen, was im Dokumentarfilm erlaubt und was tabu ist. Sicher gibt es eine große Fraktion im Dokumentarfilmgeschäft, die eine solche Einengung schon aus geschäftlichem Interesse nicht hinnehmen will, und in den letzten Jahrzehnten sind alle möglichen neuen Filmformen entstanden, wie die Doku-Soap, das Doku-Drama, das Mockumentary, gescriptete Pseudo-Dokus und andere experimentelle Formen, die niemand verbieten will, die aber den Begriff des Dokumentarischen nicht erweitern, sondern nur verwässern.

Fenstergespräch, © HAL
Braucht die Branche andere Rahmenbedingungen?

Warum soll man aber nicht — ähnlich wie die Biolandwirtschaft, die Rahmenbedingungen für ein Gütesiegel geschaffen hat — auch Rahmenbedingungen für ein Dokumentarfilm-Siegel schaffen? Ein allgemeinverbindliches Regelwerk, an das sich die Dokumentarfilmer halten, die dieses Siegel verwenden und dadurch dem Zuschauer transparent machen, welche Regeln sie einhalten. So etwas wie die Dogma-Regeln der Independent-Spielfilmszene.

Nach dem »Lovemobil«-Skandal 2019 wäre es eine pragmatische Lösung, um für den Dokumentarfilm schädliche Betrugsversuche zu unterbinden. Diese hat es übrigens auch schon viel früher gegeben, man erinnert sich vielleicht noch an den Fernsehjournalist Michael Born, der die Gier nach außergewöhnlichen Geschichten mit Nachrichtenfälschungen bediente und der zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Auch damals haben alle Beteiligten erst aufgeschrien, dann Besserung gelobt und Konsequenzen angedroht, schließlich alles beim Alten belassen und sind in den nächsten Skandal geschlittert. Geschadet hat das Ganze den verantwortlichen Sendern nicht, nur der Dokumentarfilm ist wieder ein Stück unglaubwürdiger geworden, und es wird zunehmend schwerer, sich auf dieser Ebene über gesellschaftliche Realitäten zu verständigen.

Autor
Hauptautor: Hans Albrecht Lusznat; Rahmen, Ergänzungen: C. Gebhard, G Voigt-Müller

Bildrechte
HAL, BR/megaherz/Anne Deiß, BR/megaherz/Philipp Thurmaier, Pixabay/wbwolfgang

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