Editorial, Kommentar: 30.11.2017

Eine ganze Gesellschaft auf Highspeed?

Geht das nicht schneller? Wir haben keine Zeit. Effizienz ist unser höchstes Gut. Es zählt letztlich nicht das Ergebnis, sondern, wie schnell wir da hin kommen. Sieht man mal von Großprojekten wie Stuttgart 21, dem Flughafen Berlin-Brandenburg oder der Bildung einer handlungsfähigen Bundesregierung ab, scheint dies das Credo unserer Gesellschaft zu sein.

Das schlägt sich nicht nur im Geschäftsleben Bahn, sondern reicht bis weit in den Privatbereich hinein. Nach Speedreading kam Speeddating, aber die Entwicklung geht natürlich immer weiter: Streaming-Dienste bieten heute die Möglichkeit, Hörbücher auch mit erhöhter Geschwindigkeit abzuspielen.

Dabei werden einerseits die Pausen zwischen den Worten verkürzt und andererseits wird zusätzlich die Abspielgeschwindigkeit erhöht. Das klingt dann zwar einigermaßen hektisch und reduziert die gestalterische Arbeit der Hörbuchregisseure und der Sprecher auf Automatenstimmenniveau, aber man spart eben wahnsinnig viel Zeit, die man anderweitig nutzen kann.

Etwa, um auf Youtube Videos in bis zu doppelter Geschwindigkeit anzusehen. Einfach auf das Zahnrädchen am unteren Bildrand klicken und unter dem Menüpunkt Geschwindigkeit auswählen: Es stehen 1,25-, 1,5- und 2fache Beschleunigung zur Verfügung.

Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Durch Binge-Watching mit doppelter Geschwindigkeit können Sie ganz einfach andere Serien-Junkies überholen. Klar, die Arbeit von Regisseuren, Kameraleuten und Cuttern kann man so nicht mehr würdigen oder genießen, aber was soll’s: Hauptsache effizient.

Highspeed
Wird die Speed-Sucht unserer Gesellschaft den Menschen zu viel?

Teilweise wird aber auch schon in der Produktion an der Uhr gedreht: Bei vielen Video-Tutorials etwa wird so schnell gesprochen, dass man sicher sein kann, dass hier in der Postproduction beschleunigt wurde.

Das Video ist drei Minuten lang, aber die Statistik zeigt, dass die meisten Nutzer nach zwei Minuten aussteigen? Kein Problem, lass es schneller laufen, dann kriegen wir das schon auf zwei Minuten. Dass das ganze Video dann klingt wie der Warnhinweis in der Medikamentenwerbung: »schudel-di-wudel-di Packungsbeilage, Arzt oder Apotheker«? So what?

Wo soll das hinführen? So können eigentlich nur rückwärtsgerichtete Oldies fragen — und wer will da schon dazugehören? Andererseits kann man aber schon den Eindruck gewinnen, dass die Speed-Sucht unserer Gesellschaft immer mehr Menschen zu viel wird und sie auf die eine oder andere Weise aus dem Hamsterkäfig aussteigen wollen: Immer öfter hören wir etwa in der Redaktion von film-tv-video.de von Geschäftsführern und Firmengründern, die sich eigentlich weit vor der Zeit in den Ruhestand begeben.

An einer anderen Stelle zeigt sich ebenfalls, dass Speed vielleicht doch nicht alles ist: Das Turbo-Abi, als G8 bekannt, ist ja mittlerweile in einigen Bundesländern schon wieder Geschichte – und in vielen anderen in der Diskussion.

Gut Ding will Weile haben? Könnte sein, dass dieses Sprichwort doch einen wahren Kern hat — auch wenn Speed in anderen Bereichen natürlich zweifellos absolut erstrebenswert ist: in puncto schnelle Lieferung, rascher Heilung und kurzer Wartezeit etwa. Wahrscheinlich brauchen wir beides: Rush and relax.
 
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