Dokfest München 2015: Vorschau und Empfehlungen
Am Donnerstag den 7. Mai 2015 beginnt das 30. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus 140 Filmen in 10 verschiedenen Reihen. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternen ab. Sein Resümee: Das Festivalprogramm liegt insgesamt auf hohem Niveau.
Twilight of a life
Eine alte Frau liegt im Bett und spricht mit dem Filmemacher, ihrem Sohn, über den Film, der gerade entsteht. Er soll ihn unbedingt verkaufen. Die 94jährige, obwohl sie über ihre eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten klagt, ist sehr lebendig und ausdrucksstark. Der Sohn spricht laut und deutlich mit ihr, hält ihre Hand, bringt ihr zu Essen, tanzt, singt Chansons, auch selbst entwickelte, die aus dem Augenblick entstehen. Sie trinken, sie rauchen und sprechen.
Es ist kein Film des Erinnerns, es geht um das jetzt und die Zukunft. Was macht dich glücklich? Dieser Moment! Hin und wieder entfleucht die Kamera dem Zimmer, der Wohnung und dann wird für kurze Zeit der ansonsten in schwarz-weiß gehaltene Film andeutungsweise farbig. Es sind viele Besuche am Bett der Mutter, die sich aneinanderreihen, es sind gute und schlechte Tage, Tage an denen sie den Sohn nur mühsam erkennt. Es geht in den Gesprächen auch immer wieder um das Ende, die Frage, worauf warte ich, und die Erkenntnis »Es ist noch nicht soweit«. Dieser Film ist eine wunderbare und intensive Form des gemeinsamen Abschiednehmens.
Und wer glaubt, die Mutter sterbe, weil jeder Film ein dramaturgisch passendes Ende brauche, der irrt — und das ist gut so.
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Lebe schon lange hier
Berlin, Gormann-Ecke-Zehdenickerstrasse, der Blick vom Balkon im dritten Stock. Es beginnt mit Nachtszenen. Silvesterraketen schießen über die Häuser — und dann ziehen sich die Beobachtungen hin über ein ganzes Jahr, bis zum Ende des Films: die Passanten schleppen vermehrt Weihnachtsbäume nach Hause.
Der Alltag plätschert dahin: Kehrmaschinen, Paketdienste, Handwerker, Taxis, rangierende LKWs, Krankenwagen. Polizeifahrzeuge tauchen auf und auch ein Helikopter landet auf der Kreuzung. Liebespaare, Schulklassen, Fahrraddemos, Plakatkleber, Anstreicher, Bauarbeiter, Filmteams, Modefotografen vor dem Haus
Dazwischen immer wieder eine Katze, die umherstreift, sich auf Autos sonnt, tolle Schatten wirft oder sich von Passanten kraulen lässt.
Ein paar Mal verlässt der Beobachter seine erhöhte Position und begibt sich mit den Beobachteten auf Augenhöhe: sicher sind diese kurzen Begegnungen inszeniert. Dann gibt es noch den alten Mann, der immer mal wieder auftaucht und zwischen den Autos nach etwas sucht. Mit Standbildern hält der Autor seine Aktivitäten kurz fest. Die Bilder sind in schwarzweiß gehalten und neben Musikstücken hören wir die Alltagsgeräusche aus der Wohnung des Beobachters, Tischdecken, Kaffeekochen, Staubsaugen und Anrufbeantworternachrichten. Hin und wieder streut der Autor Alltagsbeobachtungen in kurzen Texten ein, ansonsten ist bei diesem beobachtenden Dokumentarfilm hauptsächlich das Auge und die Lust am Zuschauen gefragt.
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Being Bruno Banani
Die Prinzessin von Tonga in der Südsee will einen heimischen Sportler bei den Olympischen Winterspielen 2010 platzieren, im Rodelsport. Und weil der Rodelsport in Deutschland intensiv betrieben wird, holt man sich zwei deutsche Experten ins Inselreich. Die Inselbewohner wählen nach mehreren Testfahrten auf einer abschüssigen Inselstraße einen 20jährigen Informatikstudenten aus, weil dieser ohne Zögern in kindlichem Übermut mit dem Rollschlitten den Hügel hinab fährt.
Tonga ist kein reiches Land und von Beginn sinnt die beteiligte Leipziger Agentur über Finanzierungs- und Sponsoring-Möglichkeiten nach. Eine Unterwäsche-Firma kann man sich gut als Sponsor vorstellen. So wird aus dem Studenten Fuahea Semi kurzer Hand der Tonganer Bruno Banani mit entsprechendem Pass und Geburtsurkunde.
Der Name hat den großen Vorteil, dass er das Sponsorenverbot der Olympiaveranstalter umgeht: Der gewünschte Sponsor weiß aber noch gar nichts von seinem Glück und der neugebackene Rodler muss seinen Sport erst noch lernen, schließlich hatte er noch nie Schnee in den Händen. Erfahrene Sportler schütteln den Kopf, denn in einer Diszipin, in der man spätestens mit zehn Jahren aktiv beginnt und die Erfahrung auf der Bahn zählt, wie soll da ein 21jähriger Quereinsteiger die Olympiaqualifikation schaffen?
Der Film erzählt mit geschickter Dramaturgie und festem Ziel über einen Zeitraum von sechs Jahren die Entwicklung von Bruno Banani mit all ihren Rückschlägen und Unwägbarkeiten.
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Miners shot down
Der Film beginnt mit Ausschuss-Material: man sieht das Gewebe eines Kleidungsstückes, einen ausgetrockneten Grasboden, die Kamera baumelt, wird hochgerissen — und Polizisten feuern zwischen gepanzerten Fahrzeugen hindurch auf eine Gruppe geduckt rennender Afrikaner, die wie für eine Touristenshow historische Jagdszenen nachzustellen scheinen. Dann liegen am 16. August 2012 mehr als 130 Menschen am Boden, 34 davon tot. Das alles, weil die Arbeiter der Lonimin Platin Mine in einen wilden Streik getreten waren. Dieser Tag ist als das Marikana Massaker in die Geschichte Südafrikas eingegangen.
Hintergrund der Auseinandersetzung sind zwei konkurrierende Gewerkschaften, wobei die regierungsnahe National Union of Mineworkers NUM die Forderungen der Arbeiter für überzogen hält. Der Gründer dieser Gewerkschaft, Cyril Ramaphosa, saß 2012 im Aufsichtsrat der betroffenen Lonimin Mine und gehört mit einem geschätzten Vermögen von 675 Millionen US-Dollar zu den reichsten Männern des Landes. Von den Streikenden wurden über 200 des Mordes angeklagt, obwohl die Polizisten die Täter waren, doch diese Anklage erlaubt ein noch bestehendes Gesetz aus der Zeit der Apartheid. Der Film greift zurück auf Material von Fernsehanstalten, Polizeivideos und Aufnahmen des Sicherheitsdienstes der Lonimin Mine. Erzählt wird die Geschichte als Countdown vom sechsten Tage vor dem Massaker.
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Something better to come
Auf der größten europäischen Müllkippe Svalka in Moskau leben etliche Gescheiterte der russischen Gesellschaft, darunter auch Kinder. Die 10jährige Yula ist eine Schönheit und lebt mit ihrer Mutter wie die anderen in provisorischen Verschlägen aus Fundstücken. Sie leben von dem, was sie finden, sammeln brauchbare Rohstoffe, die die Erwachsenen bei einer Sammelstelle hauptsächlich gegen Wodka eintauschen.
Der Film folgt der Gruppe um Yula und weil keiner da ist, der die Kinder vom Rauchen und Trinken abhält und weil die Erwachsenen bereitwillig den Wodka teilen, ist der Weg in den Alkoholismus vorgezeichnet, und man erlebt den stufenweisen Verfall von Yula. Sie wird niedergeschlagen, vergewaltigt und bekommt ein Kind. Und mit dem Kind setzen das Umdenken und die Sehnsucht nach einem normalen Leben jenseits der Müllkippe ein.
Yula schafft es, da ist der Film ganz eine tradierte Erfolgsgeschichte. Sie wird mit einer sehr intimen Kamera in ruhigen Bildern über eine Zeitspanne von 14 Jahren erzählt.
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Elephant’s Dream
Kinshasa im Kongo. Drei staatliche Institutionen, die Bahn, die Post und die Feuerwehr werden vorgestellt. Henriette arbeitet bei der Post hinter dem Schalter – und der bleibt die meiste Zeit leer. Wer schickt noch Briefe und wer glaubt daran, dass sie ankommen?
Simon und Van Nzai bewachen den Bahnhof, ohne dass ein Zug auftaucht. Leutnant Kasunga sitzt im Hof der Feuerwehr auf einem Plastikstuhl und denkt über die Notwendigkeiten nach. Kinshasa, die zweitgrößte Stadt in Afrika, bräuchte neben der zentralen Wache noch mindestens fünf weitere Feuerwehrstationen. Die gibt es nicht. Deshalb kommen sie im Notfall immer zu spät.
Die Innenansichten der Protagonisten werden aus dem Off unter ruhige Bilder ihres Alltags gelegt, und der besteht zum größten Teil aus Warten. Entwicklung gibt es. Die Post führt in chinesischer Kooperation den elektronischen Geldverkehr ein und schließlich kommt doch ein Zug im Bahnhof an.
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The Queen of Silence
Ein Hüttendorf im Brachland zwischen Plattenbausiedlungen am Rande einer polnischen Stadt. Hier hat sich eine Gruppe von Roma-Familien aus Rumänien eingerichtet. Denisa Gabor ist ein heranwachsendes Mädchen und fast taub. Sie kann sich nur mit unartikulierten Lauten und Gesten verständlich machen.
Der Film folgt ihr im Alltag, beim Spielen mit anderen Kindern, daheim in der Hütte und beim Gang zum Arzt, der ein Resthörvermögen diagnostiziert und mit entsprechender Hilfe eine Sprachbildung für möglich hält. Denisa bekommt ein Hörgerät. Natürlich gibt es Konflikte der Roma mit der Bevölkerung aus den umliegenden Wohnungsbauten und die Polizei kommt. Immer wieder verarbeiten die Kinder in ihrem Spiel das Erlebte. Ihre Visionen dürfen sie in gespielten, videoclip-artigen Szenen ausdrücken.
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Always together
Petr und Simona haben neun Kinder und betreiben das Familiendasein wie eine Firma. Petr ist von Beruf Vater: Das Familieneinkommen besteht aus dem Kindergeld. Alle leben zusammen mit Hühnern und Ziegen in der freien Natur am Waldrand in einer Art ausuferndem Bretterverschlag und kreativem Chaos, irgendwo in der Tschechischen Republik.
Eines Tages wird gepackt, das betagte Wohnmobil flott gemacht und alle außer der ältesten Tochter Dora brechen auf in den Süden. Dort finden sie am Meer unter einer großen Straßenbrücke ein neues vorübergehendes Zuhause, feiern Weihnachten, baden und die beiden ältesten Söhne verdienen mit ihrer Straßenmusik das nötige Kleingeld, um im erträglichen Klima zu überwintern.
Dora übersteht daheim den Winter, versorgt die Tiere und bekommt ein Baby. Mutter Simona unterrichtet als Lehrerin ihre Kinder so gut, dass sie die nötigen Prüfungen der Schule bestehen.
Der Film mit seinen Bildern ist mittendrin in diesem Familienalltag. Allein die Fülle der Bilder und Situationen ist manchmal ein bisschen getrieben. Vater Petr ist die dominante Figur, lebt hier seinen Entwurf und hat eines erreicht, wie er resümiert: Die Kinder sind fit fürs Überleben überall. Der Film zeigt, dass es eine andere Wertorientierung im Alltag gibt.
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Desert Haze
Die Wüste spielt schon in der Bibel eine wichtige Rolle und dieser Film führt eine Reihe von Leuten zusammen, die sich im Dunstkreis der kargen Landschaft bewegen. Da sind die Marsbegeisterten, die in selbstgebastelten Raumanzügen für ihre Expedition üben; die Traditionsbewussten, die mit Handkarren und in Kostümen den Marsch der Einwanderer nachspielen; die Geschichtsforschenden, die ein Internierungslager für asiatische Mitbürger während des 2. Weltkrieges ausgraben; die Umweltpolitischen, die den Folgen der Atombombentest nachspüren, denen eine ganze Hollywood-Filmcrew und John Wayne zum Opfer gefallen sind; die Indianer, die man auch noch aus der unwirtlichen Wüstenlandschaft vertrieben hat und die über die negative Namensgebung ihrer historischen Plätze sinnieren.
Mitten in die Wüste wurde mit California City eine der größten Städte des Südwestens geplant und ein riesiges Straßennetz angelegt. Tumbleweeds, die rollenden Gestrüppballen und Ikonen des Westernkinos, so erfährt man von einem Ranger des Naturparks, kommen aus Russland, so wie die Schafe mit den Einwanderern nach Amerika kamen. Der Film versammelt opulente Landschaftbilder und arbeitet mit einer hervorragenden Tondramaturgie.
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El Hogar al Reves
Eine Siedlung im mexikanischen Tijuana, wo vogelkäfig-artige Häuser die Bewohner ein Vermögen kosten und sie deshalb viel arbeiten müssen. Die Kinder sind darum allein daheim. Der Film beobachtet eine Gruppe Jugendlicher und fragt nach ihren Lebensentwürfen.
Da ist Gerardo, dem daheim die Decke auf dem Kopf fällt, Santos, der zeichnet und den Bruder versorgt, und Omar, der Gedichte schreibt. Sie hängen zusammen herum, üben Breakdance und unternehmen Ausflüge in die Hügellandschaft über der Stadt.
Gerardo schwängert ein Mädchen und wird Vater, obwohl er das eigentlich nicht will und es nicht zu seinem Lebensentwurf passt. Santos entdeckt die Fotografie als Möglichkeit, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen und verfolgt den Traum, mit 18 in die USA nach San Diego zu gehen.
Dieser Film begleitet die Jugendlichen über ein Jahr und zeigt, wie sich ihr Leben ändert. Dabei ist er außergewöhnlich gut fotografiert. Als Besonderheit: Es gibt Aufnahmen mit einer fest am Körper montierten Kamera der Protagonisten, die sie in eine fremdartige Beziehung zur ihrer Umwelt setzt.
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Ce Qu’il reste de la Folie
Senegals Hauptstadt Dakar beherbergt im Vorort Thiaroye eine psychiatrische Klinik. Die Schulmediziner hier suchen auch den Dialog mit traditionellen Heilern und sitzen gemeinsam an einem Tisch. Viele Patienten gehen sowieso erst zu einem Heiler, bevor sie in die Klinik kommen.
Die Autorin und Filmemacherin Khady Sylla kennt das Krankenhaus aus eigener Erfahrung und gibt Auskunft über ihre Behandlung. Der Film zeigt verschiedene Kranke, den Alltag der Klinik und auch die Behandlungsmethoden der Heiler — fast immer in extrem nahen Einstellungen.
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La buena Vida
Ein Kohletagebau in Kolumbien, die Umsiedlung einer indianischen Lebensgemeinschaft steht an. Der Film beobachtet den Prozess.
Unter Leitung ihres Gouverneurs Jairo Fuentes Epiayu verhandeln die Indianer mit dem internationalen Bergbaukonzern Cerrejon (»We work in harmony with the enviroment and society«) und es ist ein typischer Konfliktstoff, hier Mine gegen Dorf.
Es ist ein Vorzeigeprojekt vielleicht auch durch die internationale filmische Beobachtung. Und man ahnt schon, was passiert. Die von Anbeginn geforderte Garantie für die Wasserversorgung wird nicht eingehalten und die Frauen ziehen mit Eimern los.
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The Storm Makers
Der Film erzählt die Geschichte der Bauerstochter Aya, die 16jährig als vermeintliche Gastarbeiterin nach Thailand geschickt wird, in Wahrheit aber als Sklavin verkauft wurde.
In Thailand musste sie arbeiten, wurde eingesperrt und vergewaltigt. Aya konnte entkommen, bekam ein Kind und konnte zurück in ihr Dorf. Jetzt lebt sie im Haus ihrer Eltern, die das Geschäft angebahnt und das Geld genommen hatten. Die Mutter fühlt sich nicht unbedingt schuldig, während sich der Vater Vorwürfe macht.
Angeheuert werden die jungen Arbeitssuchenden von Agenturen, die ihnen gute Arbeitsplätze versprechen und einen Vorschuss zahlen. Der Chef einer Agentur ist ein weiterer Protagonist und erzählt, wie das Geschäft funktioniert. Nebenbei bekommt man einen Einblick in seinen Wohlstand. Dann gibt es noch die Vermittlerin, die im Dorf zu den Familien geht und die jungen Leute für die Arbeit im Ausland interessiert. Viele kommen nicht zurück, sterben in der Fremde, oft durch Selbstmord.
Am Schluss des Films sagt Aya, während sie sich mit ihrem Sohn beschäftigt, einen Satz, der einen erschaudern lässt: Sie will sich eines Tages an dem Sohn ihres Vergewaltigers rächen.
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For the Lost / Les Tourmentes
Ein Mann ganz nah, dann von unten gegen einen Baum, aufgenommen in traditionellem 4:3. In der kargen und baumlosen Landschaft des Languedoc sitzt eine Person eingehüllt in ein grünverwaschenes Cape vor einem Steinhaufen. Aus dem Off flüstert eine Frauenstimme von den Schneestürmen, die der Melancholie ihren Namen gegeben haben, die durch die harten und strengen Winter bei den Menschen hervorgerufen wird.
Schafe werden geschoren, nummeriert und der Schäfer in seinem Cape zieht mit den Tieren durch die Sturm geplagte Berglandschaft. Dazwischen begegnen uns immer wieder Menschen: die Verlorenen aus der Anstalt Saint Alban sur Limagnole en Lozere. Der Film bringt poetische Texte, mystische Bilder und Menschen mit Behinderung zusammen, ein filmischer Essay in unkonventioneller Form. Wahrscheinlich der einzige Film dieses Festivals, der noch teilweise 16-mm-Material einsetzt.
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Electroboy
Der Film beginnt mit einem jungen Mann, der sich ein Frühstück bereitet, dazu eine Menge Tabletten nimmt und dann mit einem Mops spazieren geht. Es ist Florian Burkhardt, der in den folgenden 90 Minuten sein Leben ausbreitet.
Nach dem Examen als Lehrer wollte er als Schauspieler nach Hollywood gehen. Er hat dort seinen Auftritt mit Auto und Freund als Chauffeur und Manager inszeniert, getragen von schon fast krankhaftem Selbstbewusstsein. Doch dann wurde er Modell und arbeitete in der Folge für Firmen wie Prada, Gucci und Dolce & Gabbana. Schließlich stieg er aus dem Model-Geschäft aus, sattelte um auf Webdesign und realisierte mit dem Emotionsstimulator um 2000 eine erste Videoplattform im Internet.
Von Angstpsychosen befallen macht er Therapien, um dann zum 30. Geburtstag mit einer Multimediaparty unter dem Pseudonym Elektroboy die Züricher Partyszene aufzumischen. Die Psychosen haben einen Grund und in den Gesprächen mit den Eltern kommt ein Unfall aus den 70er Jahren aufs Tablett, der die Familie und die spätere Entwicklung von Burkhardt nachhaltig beeinflusst hat. Am Ende steht man als Zuschauer vor einem familiären Trümmerhaufen.
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L‘Abri (The Shelter)
Ein Zivilschutzraum und Bunker in Lausanne. In den Wintertagen wird er als Obdachlosenunterkunft benutzt. Der Film beginnt mit dem Einlass am Abend, wie sich die Schutzsuchenden vor der Bunkertür aufstellen und wie die 50 Plätze unter den Anstehenden verteilt werden. Es sind fast ausschließlich Migranten, Menschen aus den ehemaligen Ostblockstaaten, aus dem mittleren Osten und aus Afrika. Dazwischen ein spanisches Paar, das der heimischen Krise entfloh und hier nach Arbeit sucht.
Eine ganze Wintersaison lang beobachtet der Filmemacher die Zufluchtsuchenden und das Personal, das den Schutzraum betreibt, Betten verteilt, Essen kocht und sich darüber streitet, ob man nicht doch mehr Personen aufnehmen kann. Einzelne Obdachlose verfolgt die Kamera bei ihren Tagestätigkeiten: Telefonieren um Arbeit, Betteln in den Straßen Lausannes, Warten in der öffentlichen Bücherei oder die Organisation von alternativen Schlafplätzen, wenn der Bunker voll ist. Am Ende trifft man den Spanier wieder, der inzwischen allein ist und seinen Zustand mit einem Sprichwort kommentiert: Wenn der Hunger an die Tür klopft, dann geht die Liebe beim Fenster hinaus.
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The Need to Dance
Larbi Cherkaoui ist Choreograph und Tänzer in Belgien. Der Film beobachtet ihn bei der Erarbeitung verschiedener Stücke und schärft den Blick für die Kunst des Tanzes.
Cherkaoui ist mit zwei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen. Die Mutter war katholische Flämin, der Vater muslimischer Marokkaner, und wie er aus dem Off erzählt, war der Vater gegen seinen Wunsch, Tänzer zu werden. Es ist erschreckend zu sehen, wie der schon verstorbene Vater noch immer in das Leben des Künstlers hinein wirkt.
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Dreamcatcher
In der Nacht fährt die Schwarze Brenda in einem Van mit anderen durch die Straßen von Chicago, stoppt, winkt Frauen heran und verteilt Kondome. Brenda war selber Prostituierte. Heute leistet sie mit ihrer Organisation Dreamcatcher Foundation Sozialarbeit und versucht, junge Mädchen vor dem Teufelskreis aus Gewalt, Missbrauch, Menschenhandel und Prostitution zu bewahren.
Immer wieder besucht sie eine Highshool und spricht mit schwarzen Mädchen, die ihr vertrauen, weil sie selbst Betroffene war und weiß, wovon sie redet. Der Auftritt mit ihrem Ex-Zuhälter Homer hat dann auch Komisches: Früher arbeitete ich für ihn, heute arbeitet er für mich.
Ein beobachtender Dokumentarfilm, der tiefe Einblicke in Teilbereiche der Gesellschaft gewährt, die dem Normalbürger so weit entfernt sind wie Urwaldvölker.
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Toto and his Sisters
Eine heruntergekommene Wohnung in einer Plattenbausiedlung irgendwo in Rumänien wird ausgefegt. Hier wohnen der zehn Jahre alte Totonel und seine beiden Schwestern Andreea 14 und Ana 17 spärlich möbliert und allein, denn die Mutter sitzt wegen Drogenhandels und Gebrauch für sieben Jahre im Gefängnis. Ein junger Mann bringt einen Porenbeton-Baustein, schnitzt Kerben hinein und bastelt aus einer Drahtspirale einen primitiven Herd, auf dem dann eine Suppe für Toto gekocht wird.
Die Wohnung der drei Geschwister ist Treffpunkt von Junkies. Ana, die ältere, spritzt Heroin. Die Kamera beobachtet den Alltag der Geschwister, zwischen Schule, Nachmittagsbetreuung und Wohnung. Die beiden jüngeren Geschwister setzen sich in ein Waisenhaus ab und Toto entdeckt sein Tanztalent; Andreea führt ein Videotagebuch und besucht noch einmal ihre ältere Schwester, die unter dem Drogeneinfluss völlig verfallen ist.
Die Kamera ist extrem dicht an den Personen dran, niemanden stört die permanente Anwesenheit. Sie mischt sich auch nicht ein und gibt dem Zuschauer den Raum, um mit den Protagonisten um eine positive Entwicklung ihres Lebens zu bangen.
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Little People Great Dreams
Jian Quan 19 und Gui Liu 17 zerren ihre Rollkoffer zum Bahnhof in Kunming und fahren mit dem Zug, umringt von Schaulustigen. Beide sind kleinwüchsig und deshalb eine Attraktion für die Mitpassagiere. Sie waren im Dwarf Empire, im Reich der Kleinwüchsigen, angestellt.
Dieser Themenpark beschäftigt bis zu hundert Menschen unter 130 cm Körpergrösse. Täglich werden zwei Shows für Touristen veranstaltet. Die Meinung zum Unternehmen reichen von Freakshow bis zum Wohltäter, dem einzigen Arbeitgeber, der Kleinwüchsige zu akzeptablen Bedingungen beschäftigt.
Von ihren Eltern werden die Betroffenen, auch wenn sie schon über 20 sind, meist noch wie Kinder behandelt und bevormundet, und in den Statements prallen die verschiedenen Wahrnehmungen aufeinander.
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The last Moose of Aoluguya
Weijia sitzt auf dem Bett, sichtlich angetrunken. Er hat in Moskau studiert, jetzt hantiert er mit einer Schnapsflasche und diskutiert mit dem Filmemacher. 15 Tage hat er im Knast sitzen müssen, weil er sein Gewehr abgefeuert habe, in den Himmel, eigentlich ins Zeltdach, weil man ihm keinen Alkohol geben wollte.
Weijia ist ein Renntier-Ewenke, Mitglied einer Minderheit im Norden von China. Er lebt von der Renntierzucht und Elchjagd. Die Gewehre hat man ihnen abgenommen und die Regierung will die indigene Volksgruppe sesshaft machen. Mit den Tieren müssen die Ewenken aber umherziehen, immer wieder ihr Lager wechseln. Der Alkoholismus ist eine Reaktion auf die Veränderung und Sinnentleerung. Weijia kann gut erzählen und malt Jagdszenen auf Tierhäute. Seine Mutter sucht eine Freundin für ihn, nur wohnt die im Süden auf Hainan. Der Filmemacher hat Weijia und seine Familie über mehrere Jahre begleitet.
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La selva Inflada (The inflated Jungle)
In einer Hängematte liegt ein junger Mann und erzählt von einem Vorfall, bei dem ihn die Mitschüler der Internatsschule bewusstlos vorfanden und ins Krankenhaus brachten. Dann beginnt der Alltag in der kolumbianischen Boarding School mit Unterricht, Freizeit und Selbstversorgung.
Die Schüler sind zum Teil indianischer Herkunft, stammen aus entlegenen Dörfern des Amazonas-Gebietes und sind in der städtischen Umgebung der Schulde fremd. In der Schule sollen die Grundlagen für ein modernes Berufsleben gelegt werden.
Schließlich kommt der Film auf die Szene des Anfangs zurück, in der man plötzlich einen misslungen Selbstmord erkennt. Es ist kein Einzelfall, wie die Kreuze auf dem Friedhof eindrucksvoll beweisen. Nach dem Examen begleitet die Kamera zwei Absolventen zurück auf der Reise mit Flugzeug und Boot in ihr Dorf und nach Hause, wo sie mit der gerade erworbenen Ausbildung wenig anfangen können.
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Diaries of a flying Dog
Der Filmemacher fährt mit seinem Auto auf einem Grundstück in einer Hügellandschaft des mittleren Osten vor und fragt mit vorgehaltener Kamera durchs Küchenfenster die eigene Mutter, ob sie schon mal etwas von GAD gehört habe, von General Anxiety Disorder. Diese generalisierte Angststörung kann sich verselbstständigen und das reklamiert der Ich-Erzähler für sich.
Der Hund des Erzählers ist sein filmisches Alter-Ego, macht es seinem Herrchen nach und traut sich nicht über die Torschwelle des Grundstückes.
Von 1975 bis 1990 gab es Bürgerkrieg im Libanon, jetzt steht der IS vor der Tür. Wodurch die Angststörungen beim Filmemacher ausgelöst wurden, das kann er selber nicht ergründen. Für den Zuschauer eröffnet er den Blick in das Innenleben einer wohl situierten libanesischen Familie.
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The Look of Silence
Ein Augenoptiker besucht in Indonesien alte Menschen und ermittelt mit einer Testbrille die Sehstärke der altersschwachen Augen. Während er die Gläser wechselt, stellt er Fragen zur Geschichte und im speziellen zur Kommunistenjagd 1965, bei der man bis zu einer Millionen Mordopfer vermutet.
Der Augenoptiker Adi wurde zwei Jahre nach dem gewaltsamen Tod seines Bruders Ramli geboren. Nun versucht er durch die Befragung der Nachbarn, Dorfbewohner und Ex-Befehlshaber der Militärs die Umstände des Todes herauszufinden. Der Film »The Act of Killing«, den er auf dem Laptop anschaut, gibt ihm Anhaltspunkte. Bis heute ist der Genozid der 60er-Jahre nicht aufgeklärt und die Mörder von einst fühlen sich noch immer als Helden und Befreier, während die überlebenden Opfer weiterhin diskriminiert werden.
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La morte du dieu serpent
Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung an der Metrostation Marcadet in Paris wird die zwanzigjährige Koumba in ihr Geburtsland Senegal deportiert, obwohl sie seit dem zweiten Lebensjahr in Paris aufgewachsen ist und die Stadt nie verlassen hat. In einer ersten Gesprächsszene erzählt sie den Hergang der Ausweisung und dann folgt der Filmemacher über längere Zeit ihrem Alltag im Senegal, wo sie bei verschiedenen Verwandten Unterkunft findet, während die Eltern und Geschwister in Paris telefonisch ihre Unterstützung organisieren.
Im Senegal bekommt Koumba ein Kind, ein zweites stirbt und immer wieder ist sie bemüht, die Papiere für eine Wiedereinreise nach Frankreich zusammen zu bekommen. Zwischen Koumba und dem Filmemacher kommt es immer wieder auch zu Auseinandersetzungen, die sie offen vor der Kamera austrägt, wenn sie ihm beispielsweise vorwirft, daß er nur an seinem Film interessiert wäre.
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Aus dem Abseits
Peter Brückner war eine Vaterfigur der Studentenrevolte 1968. Er lehrte als Professor Sozialpsychologie an der Universität Hannover und wurde wegen linker Ansichten zweimal suspendiert. Brückner starb 1982, als sein letzter Sohn aus dritter Ehe gerade vier Jahre alt war. Nun macht dieser sich auf, von Weggefährten, Geschwistern und Mitarbeitern mehr über seinen Vater zu erfahren.
Dabei entfaltet sich ein interessantes Kapitel bundesrepublikanischer Vergangenheit, mit APO und RAF. Zu Hilfe kommt der Spurensuche viel Ton- und Filmmaterial, weil Brückner immer mal wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, beispielsweise, als es um den Mescalero-Text und dessen Abdruck ging. Vatersuche ist ein beliebtes Dok-Film Genre und eine Erzählform des Portraitfilms. Hat man sich in diesen Fall hineingefunden, dann wird man durch ein vielschichtiges gesellschaftlich relevantes Leben belohnt.
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I want to be a King
Es fing damit an, dass eines Tages zwei deutsche Touristen vor dem Haus standen. Abbas bewirtete sie mit dem, was gerade da war. Bald darauf kamen andere Touristen, die von der fantastischen Unterkunft und der iranischen Gastfreundschaft gehört hatten. Sie ließen bei ihrer Abreise so viel Geld da, dass Abbas neben seiner kläglichen Landwirtschaft ein neues Geschäftsfeld sah und ausbaute. Soweit die Erzählung und hier beginnt der Film.
Bald kommen 10 bis 20 Gäste am Tag und Abbas hat einen neuen Traum, den er verwirklichen möchte. Für die Gäste soll ein Nomadendorf wie vor 200 Jahren entstehen, und um dies zu verwirklichen, möchte er einen eigenen Stamm gründen. Er nennt es das Zeitmaschinenprojekt. Davon ist seine Frau nicht begeistert und auch die Kinder opponieren, denn er will eine zweite Frau für die Stammesgründung heiraten. Hier kann man sehen was passiert, wenn man den Spruch »Lebe deinen Traum« allzu ernst nimmt.
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Die Gewählten
Zu Beginn der 17. Legislaturperiode treten im Herbst 2009 fünf neu gewählte Abgeordnete in Berlin ihren Dienst an und irren durch die Gänge des Bundestages: Sebastian Köber (FDP), Steffen Bilger (CDU), Niema Movassat (Linke), Daniela Kolbe (SPD), Agnes Krumwiede (B90/Grüne). Immer wieder besucht der Film die Politiker bei ihrer Arbeit, zeigt die erste Rede von Krumwiede, Einzug in eine neue Wohnung, die Leitung einer Enquetekommission durch Kolbe, Gespräche mit den Büromitarbeitern, Wahlkreisbesuche und Fernsehauftritte.
Der Film ist in vier Jahre gegliedert und endet mit dem Wahlkampf für die Wiederwahl im Jahr 2013. In der Regel sind Politiker glatt wie Seife, und wenn der Journalist zufassen will, dann entgleiten sie. Die Jungpolitiker sind erstaunlich offen im Umgang mit der Filmemacherin, und es ist erschreckend, zu sehen, wie sie über die Dauer nur einer Legislaturperiode altern.
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Freifall – Eine Liebesgeschichte
Die Filmemacherin Miriam findet über eine Internet-Börse einen Mann, den sie lieben lernt und mit dem sie eine gemeinsame Zukunft plant. Herbert, ein Ingenieur, ist in seiner Freizeit ein begeisterter Fallschirmspringer und wagt sich an Basejumping heran, bei dem man mit dem Schirm von Felsvorsprüngen, Türmen oder Hochhäusern springt.
Die Liebesgeschichte ist schon nach einem Vierteljahr zu Ende, weil Herbert bei einem Sprung die Felswand rammt und bewusstlos in den Tod stürzt. Die zurückgebliebene Mirima wird von der Frage umgetrieben, warum sich Menschen für kurze Glücksmomente diesem Risiko aussetzen. Sie spricht mit Freunden und Sportkameraden von Herbert und nimmt auf diese Weise Abschied.
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The new Rijksmuseum
Der Film begleitet den Umbau des Rijksmuseums in Amsterdam. 366 Millionen hat die Entkernung und Neugestaltung des Gebäudes gekostet. Das größte Planungsproblem verursacht die Radfahrer-Lobby, die partout die Durchfahrt durchs Gebäude erhalten will und damit die Eingangssituation sehr schwierig macht.
Was auf maximal fünf Jahre geplant war, zog sich über 10 Jahre hin. Man begegnet den verschiedensten Personen, dem Direktor, dem Hausmeister der Baustelle, den Restauratoren und Architekten. Gut montiert und mit schönen Beobachtungen, wie beispielsweise der Innenarchitekt während einer Besprechung einschläft, zeigt der Film den Fortschritt des Umbaus bis zur Eröffnung in 2013.
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Those who feel the Fire burning
Ein Boot in der Nacht im Sturm, gesehen mit einer subjektiven Kamera, die eigentlich kaum etwas erkennen lässt, verstärkt durch einen nur ab und zu herumwandernden Lichtstrahl, versetzt einen in das Erleben eines Schiffbruchs. Die Perspektive von Flüchtlingen vor der europäischen Küste, das bestätigen Dialogfetzen aus dem Off.
Dann befindet sich die Kamera über einer nächtlichen Großstadt und mit unstetem Horizont taumelt sie benommen in den Alltag von Flüchtlingen; der wankende Gang setzt sich von Episode zu Episode fort, findet hin und wieder zu relativer Ruhe und wird mit geflüsterten Innenansichten des Flüchtlingsleben aus dem Off unterlegt. Immer wieder schwenkt die Kamera in den Himmel und wendet sich einem neuen Fragment zu: Müllsammler, Flüchtlinge in einer Moschee, Überlebende einer Bootskatastrophe, blinde Passagiere entern eine griechische Fähre, Bürgerkriegsflüchtlinge in einem Raum…
Der Filmemacher hat mit seiner Taumelkamera verrückte und eindringliche Situationen eingefangen, und wenn man als Zuschauer die Erwartungen an eine geordnete Dramaturgie aufgegeben hat, kann man sich von den Bildern treiben lassen.
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A quien commigo va (Those, who go with me)
Lola, ist arbeitslos. 2005 hat sie ein Haus für 140.000 Euro gekauft, bis 2011 davon 90.000 zurückgezahlt, hat aber aus diesem Geschäft jetzt 240.000 Euro Schulden. Das ist Spanien nach der Immobilienkrise.
Wie das geht, kann man nachlesen, aber nicht verstehen. Ihr Haus hat sie verloren. Jetzt gehört Lola mit ihrem Mann, einem Taxifahrer, zu einer Gruppe von Hausbesetzern, die sich durch den Alltag schlagen. Unterstützt werden sie dabei von Maria, einer Gymnasiallehrerin, die als Aktivistin etwas gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen will.
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16 Years till Summer
Eine Frau hat Briefe auf dem Teppich ausgebreitet, sie liest sie immer wieder, wie sie sagt. Zwei Jahre früher fährt ein Mann im Zug durch das schottische Hochland. Es ist Uisdean, auf dem Weg zum Vater, um den alten Herrn zu pflegen. Dafür wurde der verurteilte Mörder nach 16 Jahren Knast auf Bewährung freigelassen.
Uisdeam versucht einen Neuanfang im Cottage seines Vaters, hat Pläne und will andere von einer besseren Zukunft und seiner Besserung überzeugen, auch den Zuschauer. Was für die einen ein Mord war, war für ihn ein Unfall beim Entladen des Gewehrs. Wegen eines gewaltsamen Zwischenfalls nach einem Alkoholexess muss er wieder in den Strafvollzug. Er lernt Audrey kennen, schreibt die vielen Briefe und darf schließlich wieder auf Bewährung das Gefängnis verlassen, um mit ihr zusammen in einem Cottage zu wohnen.
Obwohl der Film zunächst gut ausgeht, erfährt der Zuschauer am Schluss, dass Uisdean im Alkoholrausch einen Autounfall hatte und die Bewährung ausgesetzt wurde. Es schließt sich der Kreis zum Anfang. Will man Themen an Portraits abhandeln, dann ist man als Macher auf die Sympathie zwischen Protagonisten und Zuschauer angewiesen. Uisdean ist eine ambivalente Persönlichkeit und macht es dem Zuschauer nicht leicht.
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Beyond Punishment
Der Täter/Opfer-Ausgleich ist ein modernes Instrument, um in Gewaltkonflikten einen Ausgleich zu schaffen, der mehr auch die Opferperspektive berücksichtigt. Obwohl es bei Mord nicht funktionieren kann, wird in entsprechenden Fällen den Hinterbliebenen bei der Suche nach Verständnis des Vorfalls geholfen. Der Film schildert drei Mordfälle aus drei Ländern.
In den USA wurde der jugendliche Darell bei einem Streit in einem Geschäft erschossen, Schwester und Mutter blieben ratlos und wütend zurück. In Norwegen brachte Stiva seine Freundin Elisabeth in einem Beziehungsstreit um, zurück bleibt der Vater Erik, und in Bonn hat die RAF Gerold von Braunmühl erschossen und der Sohn Patrick will mehr über die Hintergründe wissen.
Im Wisconsin State Gefängnis hat eine Richterin einen Gesprächskreis zwischen Tätern und Opfern initiiert, wobei Teilnehmer beider Gruppen nicht direkt miteinander verbunden sind. Mord ist die extremste und nicht mehr umkehrbare Form der Auseinandersetzung, entsprechend tief und umfangreich sind die Reflexionen zur Tat, zum Hintergrund und zur Schuld. Und weil direkte Auseinandersetzung manchmal nicht möglich und erwünscht ist, übernehmen der Filmemacher, der Film selbst und auch der Zuschauer eine Vermittlerrolle.
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Fassbinder
Was muss man über Fassbinder noch sagen? Alles, denn inzwischen ist Fassbinder seit 33 Jahren tot und längst nicht mehr jedem ein Begriff. So versammelt dieser Portraitfilm einige noch lebende Weggefährten und Kollegen, zeigt Ausschnitte aus bekanntem und noch nie gezeigtem Material.
Die Autorin trifft ihre Zeitzeugen im Studio, die Studiosituation ist im Bild, der Produktionsprozess wird Teil des Produktes und Fassbinder ist ein Mensch, der wie eine Wunderkerze brennt.
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Von Caligari zu Hitler
Das Sachbuch gleichen Titels veröffentlichte Siegfried Kracauer 1947. Der Film beschäftigt sich, wie Kracauer in seinem Text, mit dem deutschen Filmschaffen von 1918 bis 1933 und greift bis auf wenige Experteninterviews auf die Bilder dieser Kinoepoche zurück. Darunter ist viel Bekanntes, aber auch fast Vergessenes in extrem guter Qualität — und oft restauriert wie im Originalzustand mit der ursprünglichen Farbgebung.
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Die Hälfte der Stadt
Chaim Berman war Fotograf und Stadtrat in Konzienice und hat in den 20er- und 30er-Jahren tausende von Fotos auf Glasplattennegative gemacht. Diese Bilder hat man wiedergefunden, Grund dafür, die Geschichte des jüdischen Fotografen zu erzählen. Um es kurz zu machen: Er konnte nach der Deportation aus dem Lager entkommen, ist aber 1942 im Versteck in Konzienice an Typhus gestorben, so wie dann auch seine Retter.
Es gibt noch Zeitzeugen, den Vermieter, der die Bilder entdeckte, den Neffen, Sohn des ausgewanderten Bruders und die Tochter seiner Retter. Die Geschichte, manchmal durch eingestreuten Kommentar erzählt, wird umfangreich durch Animation bebildert, wobei die Animation anfangs ins Realbild einfällt und später auch immer wieder auf reale Bildelemente zurückgreift. So aufwändig die Animationen auch gemacht sein mögen, sie bergen die Gefahr, dass die Geschichte in eine Märchenstunde abgleitet.
Spannend sind allemal die Fotos von Chaim Berman und es gibt einen jungen Fan und Kollegen, der akribisch an den realen Orten den historischen Motiven mit seiner Kamera auf der Spur ist.
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Beaverland
In den 40er-Jahren brachte man 25 Biberpaare aus Kanada nach Feuerland, um dort eine Lederindustrie aufzubauen. Die Idee von der Lederindustrie wurde dann fallen gelassen, der Biberbestand hingegen hat sich auf 200.000 Stück vermehrt und bedroht nun den Baumbestand und somit das Ökosystem der Inseln.
Die beiden Biologen Derek und Giorgia sind mit dem Wohnwagen in Feuerland unterwegs, um die Veränderungen und Schäden zu dokumentieren, die durch die Biber entstanden sind. Anfangs wird gesägt, gebohrt, gemessen und geschrieben, am Ende hat die wissenschaftliche Bestandsaufnahme rudimentäre Formen angenommen: Sie essen Bibergulasch und zählen ihre Fangquote, die mit etwas über 70 Stück wenig gegen die Überpopulation der Biber ausrichten kann.
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Forecaster
Martin Armstrong hat schon als Kind gerne Münzen gesammelt, hat für RCA an Computern gearbeitet, als diese noch ganze Räume füllten und hat aus der Geschichte der Geldströme gelernt und sich daraus eine Formel gebastelt, die Vorhersagen für die wirtschaftliche Entwicklung zulassen. Natürlich gehört die transzendente irrationale Zahl Pi in die Formel. Auf einem alten Powerbook ruft zum Beweis ein ehemaliger Mitarbeiter eine 16 Jahre alte Voraussage auf, die gleich mehrere Ereignisse der Finanzwirtschaft sehr genau voraussagte.
Wer Ereignisse in Börsengeschäften auf den Tag genau vorhersagen kann, ruft Neider auf den Plan und die fand Armstrong in CIA und US-Justiz. Ohne Anklage und Prozess wurde er über neun Jahre in Beugehaft genommen, um den Code seiner Berechnungen herauszugeben. Eine Machtkonstellation David gegen Goliath und eine zwischen Genie und Scharlatan chargierende Hauptfigur machen aus diesem Stoff eine stromlinienförmig dahingleitende Dokumentation, an deren Ende man sich fragt: Stimmt das alles wirklich?
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Was heißt hier Ende?
Michael Althen, Filmkritiker seit 1980, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung und ging 2001 von München nach Berlin als Redakteur der FAZ. In diesem zweistündigen Portrait hat der Freund Dominik Graf viel Material über Althen und das Kino zusammengetragen. Zur Situation der Filmkritik allgemein und bei den Tageszeitungen im Besonderen erfährt man nur etwas am Rande, weshalb der Film letztlich nur ein Portrait von und ein Denkmal für Michael Althen bleibt. Die Texte und Kritiken von Michael Althen sind auf einer eigenen Webseite zum Nachlesen versammelt.
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Das Golddorf
In Bergen am Chiemsee kommt ein Bus mit Immigranten an. Sie werden in einem Hotel einquartiert, leben in einer Art Zwangsurlaub und warten auf ihre Anerkennung als Flüchtlinge. Das Fremde wird mit den Heimatbekenntnissen der Bergener konfrontiert, wobei sie die Fremden für die Traditionspflege und den Volkstanz begeistern, denn ihr ihren Herkunftsländern Afghanistan oder Eritrea wollen die jungen Leute mit dem Brauchtum nichts mehr zu tun haben.
Der Film folgt im Wesentlichen Fishatsyou aus Eritrea und Abdul aus Afghanistan, die sich bemühen, Kontakt zur Bevölkerung herzustellen, es aber nicht leicht haben, obwohl die Bergener nicht abweisend oder gar fremdenfeindlich sind. Der Titel des Films rührt von der Goldmedaille in einem Dorfschönheitswettbewerb.
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Circus Dynastie – Eröffnungsfilm
Das ist der Stoff, aus dem man Dokusoap-Serien machen kann: Eine Zirkus- und eine Artistenfamilie arbeiten seit Jahren zusammen. Die einen haben mit »Arena« in Dänemark den größten nordischen Zirkus Europas, die anderen sind in der 5. Generation als Artisten mit vier eigenen Elefanten unterwegs.
Patrik vom Zirkus liebt die Artistin Marrylu. Mit einem Monat Altersunterschied sind sie zusammen aufgewachsen, arbeiten zusammen und man sieht in ihnen das kommende Traumpaar des Zirkus. Dann gibt es ein Zerwürfnis und als Zuschauer wittert man schon den Eingriff der Regie beim Versuch, die Filmerzählung zu dramatisieren. Der Stoff ist fortsetzungsträchtig, aber von außen gesehen zu privat und wenig Erkenntnis-relevant. Es ist die Dramatisierung einer Liebesgeschichte vor Zirkushintergund, wobei sich die Hauptprotagonisten wie bockige Kinder aufführen.
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Of Men and War
Der Filmemacher hat eine Gruppe von traumatisierten amerikanischen Kriegsveteranen bei ihrer Therapie über einen langen Zeitraum begleitet. Dazu unterhalten die US-Streitkräfte die Einrichtung Pathway Home, in der die Betroffenen untergebracht sind und zu ihren Sitzungen mit Therapeuten zusammenkommen.
Viele Ehen brechen an den Spätfolgen der Kriegshandlungen auseinander, wobei es keine Rolle spielt, ob die Beteiligten Täter oder Opfer von Angriffen wurden. Mit fortschreitender Behandlung öffnen sich die Ex-Soldaten und lassen auch Einblicke in ihr Privatleben jenseits des Pathway Homes zu. Wenn man aus dieser 2,5-Stunden-Dokumentation das Wort »Fuck« herausschneiden würde, bekäme der Film eine überschaubare Länge.
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Attention – A life in Extreme
Ein Basejumper, ein Extremradler und ein Tieftaucher sind die Protagonisten dieses Films über Extremsport.
Der österreichische Langstreckenradler Gerhard Gulewicz will das Rennen quer durch die USA gewinnen, mehr als 4.500 km in neun Tagen, und dafür muss er fast pausenlos radeln, nahe am Delirium. Der französische Apnoe-Taucher Guillaume Nery hat erkannt, dass es bei den Wettbewerben immer nur um ein paar Meter mehr geht und dreht mit seiner Frau zusammen Tauchvideoclips, die ihn im Internet mit mehr als 21 Millionen Klicks bekannter gemacht haben, als alle Sport-Titel.
Verschiedene Experten erläutern die Hintergründe des Extremsports unter medizinischen, psychologischen und soziologischen Aspekten und die 4×100-m-Weltrekordlerin Ines Geipel sagt am Schluss: Vielleicht sind das alles Kinderveranstaltungen.
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Zombie. The resurrection of Tim Zom.
Tim Zom ist ein Skater aus Rotterdam, ein asoziales Kind, das zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft wird, einschließlich Heirat. Neben Biographie-Fetzen gibt es haufenweise dynamische Skater-Aufnahmen.
Wohin entwickelt sich der Dokumentarfilm?
Warum hat sich das Dokfest gerade für »The Circus Dynasty« als Eröffnungsfilm entschieden? Von Eröffnungsfilmen geht eine Signalwirkung aus, sie geben eine Richtung vor, sie haben einen tieferen Sinn, und sei es nur den, dass ein Sponsor im Hintergrund für den Rest des Programms mit bezahlt.
Nun stehen da 90 Minuten aus dem Eröffnungsfilm »Circus« gegen 10.573 Minuten des Restprogramms aus aller Welt, und zieht man all die Filme ab, die in Retrospektiven laufen oder schon auf anderen Festivals mit Preisen bedacht worden sind, dann bleiben trotzdem doch noch sehr viele Alternativen zu »Circus«. Der Film erzählt eine private Liebesgeschichte zwischen dem Sohn eines Zirkusbetreibers in 2. Generation und einer Artistentochter der 5. Generation. Ein schönes Paar, ideal fürs Geschäft mit einer blendenden Zukunft. Das alles zerbricht. Eigentlich erschöpft sich alles in er/sie liebt mich, er/sie liebt mich nicht…
Es wird aus der Familie kommentiert, so wie es in Dokusoaps üblich geworden ist. Reflektiert wird nichts. Eigentlich ist der Regisseur am Thema gescheitert. Der Circus selbst, die Tiere, immerhin vier Elefanten, all das gibt nur die Kulisse ab und scheint die Macher nicht wirklich zu interessieren. Selten gibt es dichte Momente, etwa den, als der Artistenvater mit seiner Frau den Kindern einen Balanceakt vorführt und ihnen erklärt, worauf sie zu achten haben. Manche Dinge bleiben besser im Privaten und die Frage, kriegt er/sie, sie/ihn, lässt man lieber die Kollegen aus der Fiktionsabteilung beantworten.
Andererseits kann man nachvollziehen, dass man mit der Auswahl des Eröffnungsfilms den Geschmack möglichst vieler Zuschauer treffen möchte. Genau das ist im Allgemeinen das Dilemma, in das der Dokumentarfilm gerät, wenn er massenkompatibel sein will. Er muss sich anbiedern, und diese Tendenz spürt man bei einigen Filmen ganz deutlich. Sie kommen in einer Hochglanzverpackung daher, aufgemotzt mit allerlei visuellen Spielereien. Doch im Erzählfluss einer Geschichte ist die Kameraarbeit die bildliche Ausschmückung — und wer übertreibt, verliert die Herzen der Zuschauer.
Tendenzen, Kommentare
Aus den beschriebenen Filmen, die natürlich nur einen Ausschnitt des gesamten Programms des Dokumentarfilmfestivals darstellen, lassen sich einige Schlüsse ziehen:
Die Macht der Worte
Geschichten erzählen sich auch in Dokumentarfilmen hautsächlich durch Worte. Geschickt in Protagonisten-Gespräche eingebunden oder im gesetzten Interview an den Autor gerichtet, erfährt man alle wichtigen Zusammenhänge. Allein auf die Kraft von Bildern verlässt sich kaum ein Filmemacher. Auch in seltenen Ausnahmefällen (»Lebe schon lange hier«) traut der Autor den Bildern nicht vollends und bringt zur Absicherung noch eigene Texte ein, die dieser Film nicht unbedingt braucht.
Was soll jetzt noch passieren?
Dramaturgie im Dokumentarfilm ist die Kunst, eine Geschichte spannend zu erzählen. Gelungen ist es dann, wenn man nach 90 Minuten guter Unterhaltung den Inhalt zusammenfassen soll und das im Wesentlichen mit einem Satz schafft: Etwa mit »Ein Mann geht über ein Drahtseil zwischen den World-Trade-Center-Türmen« (»Man on wire«). Bei manchen Filmen beschleicht einen zur Hälfte des Programms allerdings das Gefühl »Das kann es noch nicht gewesen sein, jetzt muss die Katze noch aus dem Sack« (»Electroboy«).
Kann man den Geschichten trauen
Das Wort Stoffentwicklung im Abspann eines Dokumentarfilms lässt alle Alarmglocken schrillen und geht einher mit einem Vertrauensverlust. Dass die Anwesenheit der Kamera die Interaktion der Protagonisten beeinflusst, ist eine bekannte, aber unumgängliche Gegebenheit des Dokumentarfilms. Dass bei der Bearbeitung Geschichten im Sinne des Erzählflusses aufgemotzt, bereinigt und schlimmsten Falls verfälscht werden, ist eine Schwäche der Erzählers um des Erfolgs Willen. Dass Protagonisten im Sinne der Filmdramaturgie gesteuert und im Sinne des Endprodukts beeinflusst werden, ist eine neue, geschäftsmäßige Ebene in der Medienindustrie, die den Rohstoff Protagonist und reales Leben ausbeutet, aufbereitet und veredelt als Konsumware auf den Markt bringt.
Filme über Kinder
Kinder sind die angesagten Protagonisten, (»Toto und seine Schwestern«, »The Queen of Silence«, »Something better to come«und »El Hogar al Reves«) und alle Filme sind unbedingt sehenswert.
Immer breiter
Auffallend viele Filme benutzen das Seitenverhältnis 1:2,4 (Scope). Das Bild wird immer breiter und die Macher eifern dem Spielfilm nach (»Attention – A Life in Extreme«). Immerhin gibt es auch 4:3-Filme (»For the Lost«).
Autorenfilmer
Der Autorenfilmer, der den Film macht und auch die Kamera bedient, wahrscheinlich auch noch schneidet, ist weiter auf dem Vormarsch. Inzwischen beträgt die Rate der Filme, bei denen der Autor sein eigener Kameramann ist, gut die Hälfte.
Komplizenschaft mit dem Protagonisten
Wenn sich der Autor auf die Seite des Protagonisten schlägt und sich dessen Sicht der Dinge zu eigen macht, dann geht er mit ihm eine Komplizenschaft ein. Auffallend viele Filme wählen diesen Weg und erzählen individuelle Lebensgeschichten aus der Sicht ihrer Protagonisten.