Branche, Film, Top-Story: 03.05.2017

Dokfest München 2017: Vorschau und Empfehlungen

Am Donnerstag den 3. Mai 2017 beginnt das 32. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus 157 Filmen aus 45 Ländern. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen ab.

John Berger or the art of looking

Dokfest 2017
Ein Porträtfilm: »John Berger or the art of looking«.

Es ist ein klassischer Portrait-Film zum 90. Geburtstag des britischen Schriftstellers, Kunstkritikers und Drehbuchautors John Berger, der in den 70er Jahren die Drehbücher zu einigen Filmen von Alain Tanner schrieb, darunter zu Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird. Anfang der 70er Jahre hat Berger für die BBC eine Filmserie Learning to see moderiert, und dieser Stimme hört man einfach gerne zu. Der Film versammelt Freunde und Familie, die sich über den Künstler äußern, ist ruhig und solide gemacht und auch deshalb sehenswert, weil das Sehen immer eines der großen Themen von Berger gewesen ist.

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No place for tears

Dokfest 2017
»No place for tears« – Eindrücke aus Kobane.

In einem kurdischen Dorf der Türkei, in Sichtweite zu Kobane, haben sich Flüchtlinge versammelt und schauen über die Grenze zu, wie in ihrer Stadt der Krieg tobt. Es ist ein Ausharren mit vielen Gesprächen, mit Menschenkette  und Theateraufführungen. Im Januar 2015 ist Kobane vom IS befreit und die Leute kehren in eine zerstörte Stadt zurück, wo über Straßenzüge hinweg kein Haus mehr steht. Die Kamera begleitet einen Lehrer und Schüler, die in der verwüsteten Schule Einzelteile von Musikinstrumenten zusammensuchen, einen Jungen, der aus den Trümmern verwertbare Metallstücke birgt, Kinder, die Munitionshülsen sammeln. Manchmal sprechen die Menschen wie inszeniert pathetisch über Kurdistan. Als Betrachter versteht man nicht, wem sie hier etwas vormachen. Immer da, wo der Film sich auf ruhige Beobachtung verlässt, wird er besonders stark.

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Komunia

Dokfest 2017
»Komunia« – keine Zeit für Kindheit.

Nikodem ist Autist und das Anziehen einer Hose bereitet ihm Probleme. Er steht kurz vor der Kommunion und muss die mündliche Prüfung bestehen, dafür lernt seine ältere Schwester mit ihm, die 14jährige Ola. Sie kümmert sich als einzige in der Familie um die Dinge des Alltags. Der Vater trinkt, die Mutter ist mit dem jüngsten Kind abwesend, eigentlich schon längst ausgezogen. Ola ist zerrissen zwischen Pflicht und eigenem Interesse, sie ist die Hauptperson des Films – gefangen in einer Sisyphus-Rolle. Es gibt eine wunderschöne Szene, in der sie auf der Waschmachine sitzt, und sich an den Küchenmöbeln festhält, um die Vibrationen beim Schleudern zu bändigen. So erdrückend die psychische und physische Enge in dieser Familie ist, so wunderbar intim und zurückhaltend sind diese Alltagsbeobachtungen.

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Cameraperson

Dokfest 2017
»Cameraperson« – der besondere Blick.

Foca in Bosnien. Eine Schafherde kommt, zieht samt Hirten auf Pferd vorbei. Die Kamera wird nicht ausgeschaltet, rennt vor, versucht die Herde ein zweites Mal aufzunehmen, ist am Boden, da werden in letzter Sekunde noch ein paar störende Grashalme vor dem Objektiv ausgerissen, und dann marschieren die Tiere zum zweiten Mal durchs Bild. Kirsten Johnson ist Kamerafrau und Dokumentarfilmerin und hat hier aus dem Material vieler Filme Stücke zusammengesucht, die sie besonders beeindruckt haben und in denen es um das Filmemachen geht. Immer wieder sind kleine Missgeschicke eingebaut, Szenen, die normalerweise wegfallen, Putzen eines Autofensters, das Anstoßen beim Rückwärtsgehen mit Kamera und die Erschütterung der Kamera durch ein Niesen. Es geht um Begegnungen. Wie nah kann man einem Boxer kommen, der frustriert und aggressiv aus dem Ring klettert, wie verhält man sich, wo das Filmen verboten ist? Einmal kommt Johnson selbst ins Bild, zusammen mit ihrer dementen Mutter. Die Drehorte sind über die ganze Welt verteilt und weil Johnson hauptsächlich für Dokumentarfilmer arbeitet, durfte sie das Material verwenden.

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Brexitannia

Zuerst fallen die Formalien auf, denn dieser Film scheint strengen Regeln zu folgen. Einundzwanzig Minuten lang sieht man Statements zum Brexit von verschiedenen Leuten, die mehr oder weniger kontinuierlich in die Kamera schauen, die Bilder in 4:3 und in schwarzweiß. Dann kommen erste Zwischenschnitte, nicht viele, aber hin und wieder.

Dokfest 2017
»Brexitannia« – fast ein Hörspiel.

Die Bilder selbst folgen in Form und Aufbau keiner strengen Logik. Mal stehen die Leute außen, mal innen, mal weiter weg mal näher an der Kamera, oft stehen sie, manchmal sitzen sie, aber es gibt immer deutlich mehr zu sehen als die Person. Die Kardrage entspricht Fotos, die mit einer Boxkamera gemacht wurden, oft sind die Köpfe mehr am Bildzentrum mit enormen Headroom.

Der Film besteht aus zwei Teilen: im ersten aus Menschen aus allen Teilen Großbritanniens, wie man an Hand der verschiedenen Dialekte erahnen kann, im zweiten aus Experten, die dann aber, um aus den Gesprächen verwertbare Stücke für den Film zu schneiden, unterbrochen von diversen Zwischenschnitten sind, die beispielsweise exzessiv Schuhe an laufenden Füßen oder Schaufensterpuppen zeigen. Inhaltlich würde das Ganze auch als Hörspiel funktionieren, dann aber ohne den Genuss des Schauens, weil sich doch vieles aus dem Umfeld der Personen entnehmen lässt.

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Zwischen den Stühlen

Dokfest 2017
»Zwischen den Stühlen« – über angehende Lehrer.

Anna, Ralf und Katja beginnen ihre Referendarzeit als Lehrer für Grund-, Gesamtschule und Gymnasium. Es ist eine typische Dreier-Konstellation. Hier ergibt sie besonderen Sinn, denn die drei sind so unterschiedlich in ihrem Verhalten und Auftreten, dass auch der Laienzuschauer gern gute Ratschläge geben möchte. Der Alltag beim Unterricht in den Klassen mit all den Kindern, die Gespräche mit Kollegen und Prüfern in Klassenzimmern und Seminaren sind gut und intensiv beobachtet, unterschiedliche Stimmungen und Gefühlslagen sprechen für sich. Hin und wieder springt man ins Privatleben. Ralph ist zweifacher Vater, Anna offenbar alleinerziehende Mutter. Nichts wird kommentiert, alles erschießt sich aus den Beobachtungen. Ein klassischer, gut gemachter Dokumentarfilm und ein Lehrfilm für alle, die diesen Beruf ergreifen möchten.

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