Kamera, Report, Top-Story, Trend: 16.08.2005

Erpel und Drachenfeder

Sie wollen einen Spielfilm in Kinoqualität drehen, haben aber weder das Geld für 35-mm-Film, noch für eine HD-Kamera? Dann bauen Sie sich doch selbst eine Kamera. Kein Witz: Ein Team filmbegeisterter Rollenspielfreunde entwickelte und baute für den Dreh des Fantasy-Films »Drachenfeder« eine eigene HD-Kamera. Und die funktionierte so gut, dass sie nun in Kleinserie gehen und für 15.000 Euro angeboten werden soll. Da müssen Sie vielleicht doch keine eigene Kamera bauen …

Was ursprünglich mal ein Computer-Rollenspiel mit filmischen Elementen werden sollte, hat nun zwei ganz andere Ergebnisse hervorgebracht: den Fantasy-Film »Drachenfeder« und die HD-Kamera Drake.
»Ich habe ganz lange nichts Schriftliches gehabt und jedem, der interessiert war, die Geschichte so erzählt, wie man das früher am Lagerfeuer gemacht hat«, erinnert sich Filmemacher Markus Rupprecht. Irgendwann hatte Rupprecht die Geschichte — die in einer mittelalterlich inspirierten Fantasiewelt spielt, wie man sie von »Herr der Ringe« kennt — so oft erzählt und so weit entwickelt, dass er den Plan, ein Computerspiel daraus zu entwickeln fallen lässt und sich ganz darauf konzentriert, aus dem Stoff einen Film zu machen.
An der Spielemesse 2003 in Essen nimmt Rupprecht mit einem kleinen Stand teil, um Kreative zu treffen, mit denen er sein Projekt realisieren kann. Einer der Messebesucher ist Marc-Oliver Hardt, der sowohl als Organisator von Rollenspielen als auch im Filmbereich einige Erfahrung mitbringt. Er kann sich für »Drachenfeder« begeistern und ist von nun an mit dabei.
Erste Experimente mit DV und HDV können den Anspruch des Teams nicht befriedigen
Markus Rupprecht: »Die klassische Alternativfilmer-Kombo Canon XL-1 mit P&S-Adapter hätte mir nicht gereicht.« Richtiges Kino sollte es werden.
Die Internet-Recherchen die Rupprecht zur Lösung der Technikfrage unternimmt, führen zu einem entscheidenden Kontakt: Rainer Storz hat sich schon früh mit Film beschäftigt und vor mehr als 20 Jahren beim Selbstbau eines Mattscheiben-Adapters für eine 16-mm-Kamera wichtige Erfahrungen gesammelt. Storz wohnt nur einen Steinwurf entfernt von Marc-Oliver Hardt. Nach anfänglichem Zögern lässt sich auch Storz für »Drachenfeder« begeistern und schließt sich dem Kernteam aus Markus Rupprecht, Oliver Hardt und Dirk Schmischke an.
Als nach einem ersten HDV-Testdreh der für VFX zuständige Steffen Hacker einfach nur abwinkt, ist der Traum von einer einfachen Lösung für große Bilder vorläufig ausgeträumt. Die Tests mit dem ersten auf dem Markt verfügbaren HDV-Camcorder, dem JY-HD10 von JVC zeigten, dass damit nicht zu erreichen ist, was dem engagierten No-Budget-Team vorschwebte. (Einen Test des JY-HD10 finden Sie hier).

Wie baut man eine HD-Kino-Kamera?
Im Frühsommer 2004 trifft sich die Gruppe erneut und sammelt in einem Brainstorming Ideen, was nun zu tun wäre. Die vier suchen nach einer Lösung, die gut, bezahlbar und schnell realisierbar ist, denn die Probeaufnahmen sind schon geplant. Könnte man nicht eine HD-Kamera selbst bauen? Wie viel Arbeit wäre das wohl?
Drei Wochen setzt Rainer Storz euphorisch dafür an – das ist die Deadline bis zum Beginn der Probeaufnahmen. Schon am nächsten Tag wird ihm klar, dass das viel zu kurz ist. Dennoch macht er sich daran, die Teile für einen prinzipiellen Test zusammen zu stellen. Ein Probeaufbau aus einer geliehenen Industriekamera, einem Laptop und einem Adapter bringt zwar noch keine guten Bilder, zeigt aber, dass die Grundidee von Storz prinzipiell funktioniert. Was dann folgt, beschreibt Storz lapidar als »eine lange Reihe von Problemlösungen, also vorwiegend Fleißarbeit«.
Kinolook steht ganz oben auf der Wunschliste des Teams. Bei der Suche nach einem geeigneten Sensor fällt Markus Rupprecht auf, dass die Bilder, die er mit seinem digitalen Fotoapparat aufnimmt, viel mehr seinen Vorstellungen entsprechen, als die aufgesteilten Bilder normaler Videokameras. Wie bei den meisten digitalen Fotoapparaten erzeugt ein CMOS-Chip diese Bilder. So recherchiert Storz nach einem passenden CMOS-Sensor, schließlich nutzt auch Arris D20 einen CMOS-Sensor — der allerdings deutlich größer ist als der, für den Storz sich schließlich entscheidet.
Drake, als Kurzform für Drachenfeder Kamera Experiment, nennen die Konstrukteure von nun an ihre Kamera. Drake ist auch das englische Wort für Erpel.
Die »Drachenfeder«-Kamera wird als Ein-Chip-Lösung aufgebaut. Die Farbinformation wird dabei durch die Verwendung eines Bayer-Filters gewonnen. Um die Kosten im Rahmen zu halten, erhält Drake einen 2/3-Zoll-Sensor. Trotz der relativ kleinen nutzbaren Fläche dieses Sensors — sie ist etwas kleiner als das Bildfenster einer 16-mm-Kamera, kann dank der spezifischen Eigenschaften von CMOS-Sensoren eine hohe Auflösung und in Kombination mit dem Ein-Chip-Aufbau, die gewünschte relativ geringe Schärfentiefe erreicht werden.
CMOS-Chips sind weniger lichtempfindlich als CCD-Sensoren, haben aber auch weniger Probleme mit Streulicht. CCDs, insbesondere solche mit Mikrolinsen, haben genau hier ein großes Problem. Bei weit geöffneter Blende kann es bei CCDs leicht passieren, dass die Mikrolinsen Streulicht auf die Nachbarlinse werfen. Das führt bei Blendenwerten unterhalb von F 1.8 schnell zu unerwünschten Auswaschungen und Blooming, also zu Effekten, die vom Betrachter als Unschärfe wahrgenommen werden. Also darf die Blende bei CCD-Sensoren möglichst nicht so weit geöffnet sein. Je geringer aber die Blendenöffnung ist, desto größer wird die Schärfentiefe. Beim CMOS-Sensor kann – und muss wegen der geringeren Empfindlichkeit auch — die Blende weiter geöffnet werden, wodurch die gewünschte, geringe Schärfentiefe entsteht. Objektive mit Blendenwerten bis 0.7 setzte das »Drachenfeder«-Team ein.

HD-Objektive sind teuer
Bei der Recherche nach geeigneten aber gleichzeitig bezahlbaren Objektiven nutzen die Erfinder den Internet-Versteigerungsdienst Ebay. Tatsächlich verwendet haben die Drake-Konstrukteure schließlich Objektive mit C-Mount, etliche davon schon älter und ursprünglich für 16-mm-Filmkameras konstruiert. Die damit erreichbare Auflösung reichte dem Technikteam aber in den meisten Fällen aus, denn sie übertraf zumindest die Auflösung des Sensors. Konkret kamen auch Optiken von Herstellern zum Einsatz, die längst keine Objektive mehr bauen, so etwa von Rodenstock.
Um bestimmte Objektive zu bekommen, recherchieren die Konstrukteure auch nach den jeweils ältesten Mitarbeitern bei den Herstellern. Die finden in einigen Fällen auch tatsächlich noch Restposten geeigneter Objektive in verstaubten Hochregallagern. Das Drake-Team kann sie zu Preisen kaufen, weit niedriger sind, als die für aktuelle HD-Optiken. Im Lauf der Zeit kommt so eine ganze Reihe von Objektiven mit Brennweiten zwischen 6 bis 75 mm zusammen.

Rolling Shutter
Ein technisches Problem gilt es beim Sensor noch zu lösen: Bei den meisten CMOS-Bildwandlern wird ein Rolling Shutter eingesetzt. Die Helligkeitsinformationen aus dem Sensor werden in einem wandernden Streifen mit einstellbarer Breite von oben nach unten ausgelesen. Bei Schwenks führt das dazu, dass senkrechte Linien schräg verzerrt und treppenförmig abgestuft abgebildet werden. Also musste ein Sensor gefunden werden, bei dem per Fullframe-Mode alle Pixel auf einmal ausgelesen werden können. Nach einigen Tests fällt die Wahl auf den IBIS-5A von Fill Factory.
Die Sensoren werden auf einer Platine mit etwas Ansteuerelektronik geliefert, sind aber ansonsten nackt. Nun beginnt die intensive Zusammenarbeit zwischen dem Physiker und Programmier Dirk Schmischke, der als Jugendfreund von Rupprecht zum Team stieß, und dem Kameraexperten Rainer Storz: Es geht nun darum, die Daten aus dem Chip zu lesen und ein HD-Signal daraus zu generieren. Dazu sind fundamentale Programmierkenntnisse nötig.
Der Chip hat 1.280 x 1024 Pixel, also wird als Format 720p gewählt.
Drake speichert die Daten aber nicht als Video- oder RGB-Signal, sondern im RAW-Modus. Diese Daten müssen noch aufbereitet werden, bevor man ein Farbbild erhält, werden aber die Rohdaten gespeichert, hält man sich hierbei alle Möglichkeiten offen — und man braucht in der Kamera in diesem Aspekt keine Echtzeitfunktionalität. Trotzdem möchte man heutzutage am Set natürlich ein Farbbild sehen. Das löste das Drake-Team, indem es einen 17-Zoll-Flachbildschirm mit Bildern beschickt, die mit einer von Dirk Schmischke programmierten Software (einem De-Bayerer) aufbereitet werden.

Filmlook
Um den gewünschten Filmlook zu erzeugen und variieren zu können, soll der Anwender die Kamera-Kennlinie nach seinen Wünschen beeinflussen können. Deshalb integriert Schmischke eine Parametersteuerung in die grafische Be-
dienoberfläche der Kamera, die zusammen mit dem Bild auf dem 17-Zoll-Monitor dargestellt wird. Die Bedienung erfolgt über ein Gamepad, wie es sonst bei Computerspielen eingesetzt wird.
Um die Datenmenge, die verarbeitet werden muss, zu begrenzen, beschließen die Drake-Konstrukteure, mit 8-Bit-Quantisierung zu arbeiten, obwohl der Sensor 10 Bit liefert. Dafür legt Schmischke eine LUT fest, die jedoch vom Nutzer vor der Aufnahme beeinflusst werden kann.
Die Aufbereitung der Daten erfordert leistungsfähige Hardware. Bei der Großserienproduktion von Kameras werden hierfür speziell Chips konstruiert (ASICS, DSPs). Für eine einzelne Kamera wäre das unbezahlbar. Deshalb kommt bei Drake ein Industrie-PC-Motherboard mit Windows-Betriebssystem zum Einsatz, bei dem alles Unnötige abgeschaltet wurde.

Wohin mit den Daten?
Bandlose Aufzeichnung und schnelle Übernahme der Daten in ein Schnittprogramm: Das waren die Anforderungen, die das Drake-Team sich stellte. Die Wahl fiel auf 2,5-Zoll- Festplatten, wie sie in Notebooks verwendet werden, weil sie kleiner, leichter und schockresistenter sind als größere Disks und eine geringere Leistungsaufnahme aufweisen.
Die typische Datenrate des unkomprimierten Export-Videostroms beträgt in der aktuellen Kameraversion bei 8-Bit-Farbtiefe und einer Bildrate von 24 fps etwa 66 Megabyte/s (528 Mbps). Auf eine »Drake-Drive«-Wechselfestplatte passen in dieser Qualität etwa 50 Minuten. Die Wechselfestplatten erlauben zudem den schnellen Tausch einer vollen gegen eine leere Disk. Auf die Harddisk werden ausschließlich die Bilddaten geschrieben, der Ton wird, wie beim Drehen mit Film, separat auf DAT aufgenommen. Beim Drehen dient eine Filmklappe zur Startsynchronisierung.

Gehäusebau
Noch besteht Drake in dieser Projektphase mehr oder weniger aus Einzelteilen, auch der NP-1-Akku für die Spannungsversorgung ist noch nicht integriert. Um möglichst flexibel arbeiten zu können, beschließen die Drake-Konstrukteure, Kamerakopf und -körper getrennt zu halten, aber so, dass sie einfach miteinander verbunden werden können. Das setzt Jan Hulverscheid um, ein Schmied und langjähriger Freund von Markus Rupprecht. Er wird auch im Film einen Schmied spielen.
Die erste Version des Drake-Gehäuses entsteht also auf einem Amboss: echte Hardware.

Erste Aufnahmen
Damit gehen Ende Oktober 2004 die ersten Aufnahmen los. Da es sich um eine No-Budget-Produktion handelt, wird vorwiegend an Wochenenden gedreht. Als die ersten Szenen im Kasten sind, will die Crew natürlich wissen, wie ein mit ihren Daten ausbelichteter 35-mm-Film aussieht. Deshalb reisen sie im November zu Swiss Effects nach Zürich, um dort aus erster Hand ein Urteil über ihr Material zu erhalten. Der technische Berater Thomas Krempke versichert ihnen, dass Auflösung und Detailreichtum sehr groß und auch die Farbigkeit schön sei. Einigkeit besteht darin, dass die Farbsättigung noch etwas zu gering ist.
Entsprechend überarbeitet Dirk Schmischke, das Signal-Processing nochmals.
Eine erste öffentliche Präsentation der Kamera soll am 10. Dezember 2004 im Rahmen eines Filmnachwuchskongresses in Halle / Saale stattfinden. Aber am Vorabend greift Rainer Storz nach viel zu langen Schrauben, als er die Kamera montiert. Die bohren sich gnadenlos in die Festplatte. Deshalb kann die Kamera in Halle zwar ausgestellt, aber nicht im Betrieb vorgeführt werden. Lediglich die 35-mm-Ausbelichtung kann gezeigt werden — und die hinterlässt Eindruck: Das wachsende Interesse von außen weckt die Idee zum Bau einer Kleinserie, die teils verliehen, teils verkauft werden soll.

Der Ehrgeiz ist geweckt: Kameraoptimierung.
Rainer Storz verbessert das Kamera-Gehäuse, macht den Backfocus so zugänglich, dass Makroaufnahmen mit allen Objektiven möglich sind. Zudem integriert er ein Display in das Gehäuse. Markus Rupprecht und Marc-Oliver Hardt bereiten die nächsten Drehtage und eine weitere Präsentation vor, diesmal am Berlinale-Stand der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm.
Eine Firma soll gegründet werden, um die geplante Kamera-Kleinserie produzieren zu können. Oberstes Ziel bleibt eine kostengünstige HD-Kamera, die das Produzieren fürs Kino mit schmalem Geldbeutel erlaubt. Wenn sich damit Geld verdienen lässt, soll es in weitere Entwicklungen gesteckt werden: eine »Drake 2« mit größerem Sensor, höherer Auflösung und 10-Bit-Signalverarbeitung steht dabei auf dem Plan, aber auch Entwicklungen im Zubehörbereich.
Ideen dafür gibt es genug: Beim Dreh von »Drachenfeder« auf Burg Trifels im Dezember 2004 etwa nutzte das Team beispielsweise einen selbstkonstruierten Dolly und ein selbstgebautes »Fackellicht« aus LEDs.

Die Entwicklung geht weiter
Seit dem ersten Dreh hat sich die Kamera schon deutlich weiterentwickelt und es gibt noch etliche Pläne und Ideen zur Optimierung und Verfeinerung. So hat sich das Gehäuse geändert, Akku und Festplatten werden jetzt von hinten an die Kamera angesetzt und die Aufnahmezeit ist auf rund eine Stunde verlängert. Zur Bedienung des Menüs werden Tasten direkt an der Kamera vorhanden sein, so dass nicht notwendigerweise mit dem Gamepad gearbeitet werden muss.
Die ersten Kameras der Kleinserie werden zunächst mit einem 720er-Kopf ausgeliefert, sind aber intern schon auf das Arbeiten mit 1.080 Zeilen ausgelegt, sie sollen sich später mit einem 1.080-Zeilen Sensor upgraden lassen.
Ein kleiner Statusmonitor erlaubt die Kontrolle von Restkapazität, Akkulaufzeit, Timecode.
Zudem wird die Kamera einen USB-Slot haben. In den muss zum Betrieb ein USB-Stick gesteckt werden, der wie ein »Zündschlüssel« funktioniert und versehentliches oder falsches Bedienen verhindert. Auf diesem USB-Stick können auch persönliche Einstellungen und Presets gespeichert werden. Außerdem sollen über diesen Weg auch Software-Updates durchgeführt werden.
Ab August 2005 soll eine voll entwickelte und intensiv getestete Drake-Kamera erhältlich sein, der Nettopreis für ein komplettes System soll rund 15.000 Euro betragen.

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T_0705_Drake.pdf