Branche: 20.04.2006

Quo vadis Grass Valley?

Was heute Grass Valley heißt, ist über die Jahre zu einem Player im Broadcast-Markt gewachsen, der die breiteste, umfassendste Produktpalette für seinen Zielmarkt anbietet. Doch wohin steuert der Broadcast-Tanker namens Grass Valley? Und was steckt hinter den über Thomson insgesamt kursierenden Verkaufsgerüchten?

B_0903_Grassvalley_LogoWie geht’s weiter bei Grass Valley?

»Wie heißt BTS jetzt?« Diese Frage wird so und ähnlich immer wieder in unterschiedlichsten Gesprächen gestellt, und sie wirft ein treffendes Schlaglicht auf das Unternehmen, das heute Grass Valley heißt. Denn Grass Valley ist über die Jahre zwar zu einem riesigen Player im Broadcast-Markt gewachsen, gibt jedoch alles andere als ein homogenes Bild nach außen ab. So hat das Unternehmen zwar die breiteste, umfassendste Produktpalette für seinen Zielmarkt, aber auch große Diskrepanzen zwischen den einzelnen Divisionen des Unternehmens. In jüngster Zeit gibt es zudem viele Hinweise darauf, dass sich beim gesamten Thomson-Konzern einiges ändern könnte. Zeit, sich intensiver mit Grass Valley auseinander zu setzen.

Harte Zahlen oder gar Strategiepapiere über Grass Valley kann dieser Artikel leider nicht liefern. Außerdem hat die Redaktion auch bewußt auf die in solchen Situationen meist wenig hilfreichen offiziellen Stellungnahmen aus der PR- und Marketing-Abteilung des Unternehmens verzichtet, die letztlich kaum mehr beinhalten als das sprachliche Äquivalent zum Abbrennen von Nebelkerzen. Alles andere wäre aber auch zuviel verlangt: Zu einem Zeitpunkt, an dem die Grass-Valley-Mutter Thomson im Blickfeld von Investment-Banken steht, ist weder vom Unternehmen, noch von anderer Stelle mit detaillierten Auskünften oder Fakten zu rechnen. Dennoch: die Frage nach der Zukunft von Grass Valley stellt sich drängender denn je, und deshalb hat sich die Redaktion entschieden, dieses aktuelle Meinungsbild zu veröffentlichen. Grundlage des Beitrags sind zahlreiche Gespräche mit Markt-Insidern sowie jahrelange Marktbeobachtung der Redaktion.

Grass Valley: Aktuelle Marktbeobachtung

Grass Valley konkurriert bei klassischem Produktions-Equipment, etwa bei Kameras und Mischern, mit den Broadcast-Abteilungen von Sony und Panasonic. Anders als diese beiden Hersteller hat Grass Valley keine Display-Produkte, also broadcast-taugliche Projektoren und Bildschirme im Programm, bietet dafür aber zahlreiche andere Produkte im eigenen Portfolio, die man bei den Konkurrenten vergeblich sucht oder die dort unterrepräsentiert sind. Darunter befinden sich Infrastruktur-Produkte wie etwa Kreuzschienen und Wandler, aber auch unterschiedliche Server-Lösungen und Filmabtaster. Nimmt man die Produktpalette als Maßstab, ist Grass Valley der kompletteste aller Broadcast-Anbieter.

Mit dem jüngsten Zukauf von Canopus versucht Grass Valley, auch bei den NLE-Systemen Lücken zu schließen, also in einem Bereich, in dem die Branchengrößen Sony und Panasonic über die Jahre glücklos agierten. Zwar muss man abwarten, was Grass Valley aus den mit Canopus erworbenen Technologien und Assets macht, zumal Canopus seine größten Stärken nach wie vor im Consumer-Bereich hat und auch bei Grass Valleys Vorgänger-Unternehmen der eine oder andere NLE-Ansatz im Sand verlaufen ist. Aber der Zukauf könnte eine der wenigen Lücken im Broadcast-Produktangebot von Grass Valley schließen.

Seine insgesamt sehr gute eigene Position mit enormem Potenzial könnte Grass Valley zur stärksten Kraft im Broadcast-Markt machen — dem ist aber de facto nicht so: Das Unternehmen hat nämlich massive Defizite, wenn es um die horizontale und vertikale Integration geht. Das resultiert aus der Historie: Grass Valley ist ein Konglomerat früher unabhängiger und teilweise auch konkurrierender Betriebsteile. Einige davon haben sich bis heute nicht damit abgefunden, von einem Top-Management aus französischen Betriebswirtschaftlern geführt zu werden. So gibt es bis dato zahllose interne Reibereien und Grabenkämpfe, die weit über das in Großbetrieben normale und unvermeidliche Maß hinausgehen. Es fehlt eine integrative Kraft, eine verbindende Strategie, die über das übliche Marketing-Wortgeklingel hinausgeht: Grass Valley ist immer noch nicht zu einem gemeinsamen Unternehmen mit einer klaren Identität und einer gemeinsamen Vision zusammengewachsen.

In keiner anderen Firma im Markt klafft derzeit eine so große Lücke zwischen dem Top-Management und dessen öffentlicher Darstellung des Unternehmens auf der einen und der Realität in der Produkt- und Kundenwelt auf der anderen Seite. Das Bild, das CEO und Präsident Marc Valentin und seine engsten Berater und Mitarbeiter vom Unternehmen Grass Valley auf Pressekonferenzen und in Interviews entwerfen, muss man bei kritischer Betrachtung in vielen Fällen eher als eine Zielvorstellung, denn als Abbild der Realität deuten.

Dem Top-Management mangelt es offenbar am Bezug zu und Feingefühl für den Broadcast-Markt, geschweige denn für die noch kleineren Nischen im Filmbereich, die Grass Valley mit Produkten bedient: Hier sind Kräfte am Werk, die nur auf Grund von Zahlen, Statistiken und Prognosen entscheiden – Produkte, so wirkt es, sind letztlich völlig gleichgültig.

Das ist mittlerweile leider keine Seltenheit mehr, sondern für börsenorientierte Unternehmen fast schon der Normalfall – auch bei Grass Valley. Der zweifellos enorm wichtige US-Markt wird als alleiniger Maßstab für die komplette Firmenpolitik genommen, was die früheren Stärken des Unternehmens auf anderen Märkten schwächt. Natürlich hat der US-Markt eine Schlüsselstellung in der Broadcast-Branche, aber eine ähnliche Situation herrscht auch in der Automobilbranche vor und trotzdem richtet keiner der Großen im Fahrzeugmarkt seine komplette Strategie an diesem Markt aus. Vielmehr versucht man dort, die jeweiligen lokalen Märkte mit maßgeschneiderten Lösungen zu bedienen: Was in den USA funktioniert, passt noch lange nicht für die ganze Welt.

Die US-Fokussierung bei Grass Valley wurde spätestens mit der Übernahme des Firmennamens Grass Valley für den gesamten Broadcast-Bereich von Thomson zum Programm erhoben. Dass dies mit einer massiven Vernachlässigung des europäischen Marktes einhergeht, sehen viele als Fehler: Alle seither neu entwickelten und vorgestellten Produkte passen nicht so recht in den europäischen Markt.

Nach Informationen der britischen Zeitschrift TVB Europe wird es Grass Valley zudem nicht schaffen, seine Infinity-Produktlinie bis zur NAB2006 fertig zu stellen. Das Blatt zitiert den für diese Produktlinie zuständigen General Manager Jan Eveleens mit den Worten: »Die Version, die wir während der Messe zeigen werden, wird in puncto Hardware schon nahe am fertigen Produkt sein, aber auf der Software-Seite haben wir noch mehr Arbeit zu erledigen.« Zur IBC2005 hatte das Unternehmen noch getönt, man werde den geplanten 2/3-Zoll-Camcorder schon ab dem ersten Quartal 2006 zu Preisen in der Größenordung von rund 20.000 Euro ausliefern.

Nun ist es keineswegs ungewöhnlich, dass Hersteller in der Broadcast-Branche die angekündigten Lieferstarttermine nicht einhalten können: Das gibt es auch bei Panasonic, Sony und anderen. Das damit verbundene Problem ist bei Grass Valley aber ungleich größer, denn Infinity hat eine strategische Bedeutung: Mit dem gemeinsam mit Iomega entwickelten eigenen Aufzeichnungssystem auf Rev-Pro-Festplatten will sich Grass Valley von Panasonic und Sony emanzipieren und auch bei den Akquisitionsformaten mit den Konkurrenten wieder auf Augenhöhe kommen. In den vergangenen Jahren mussten die Vorläuferfirmen der heutigen Grass-Valley-Gruppe ihren Kunden stets Camcorder und Recorder in den Formaten der Konkurrenten liefern und hierfür komplette Geräte oder zumindest Laufwerke bei Sony und Panasonic zukaufen sowie Lizenzen erwerben. Dass unter diesen Bedingungen kein profitables Recorder- und Camcorder-Geschäft möglich ist, leuchtet ebenso ein, wie der Wunsch von Grass Valley, hier eigene, unabhängige Wege beschreiten zu können. Dass Grass Valley den Infinity-Produktplan zur IBC2006 angekündigt hat, blockiert allerdings auch die eigenen Verkäufe im Camcorder-Bereich. Außerdem ist jede Zeitverzögerung auch in dem Sinne fatal, dass sie den Konkurrenten mehr Zeit gibt, ihre Systeme XDCAM HD und P2 zu etablieren.

Ob die Kunden auf ein weiteres neues System wie Infinity warten und in Scharen darauf anspringen werden, das muss die Zukunft weisen: Schließlich tun sich auch Sony und Panasonic schwerer als erwartet, die neuen Speichermedien auf breiterer Basis im Markt zu platzieren. Sollte sich die Markteinführung von Grass Valleys Infinity noch länger hinziehen, ist das in keinem Fall ein Vorteil, denn viele Anwender sind ob der vielen Formate und Aufzeichnungsmedien, die der Markt dezeit bietet, ohnehin schon verunsichert.

Andere, schon existierende Produktlinien werden von Grass Valley weit unter Wert vermarktet. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Digital-Film-Kamera Viper. Die kocht innerhalb des Unternehmens nur auf kleiner Flamme vor sich hin, taucht in der Unternehmenskommunikation nur auf, wenn es darum geht, Grass Valley irgendwie in Zusammenhang mit aktuellen Kinofilmen zu bringen. Zweifellos ist Viper ein absolutes Nischenprodukt, das niemals einen signifikanten Beitrag auf der Ertragsseite von Grass Valley erbringen wird — aus Sicht der Betriebswirtschaftler also völlig uninteressant. Dabei wird aber vernachlässigt, dass es in der Film- und Broadcast-Branche Schlüsselprodukte gibt, die als Technologieträger fungieren und bei denen man nicht die üblichen Wirtschaftlichkeitsschablonen anlegen darf. Solche Produkte sind in dieser Branche für die Hersteller kein Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit. Aus Viper könnte Grass Valley wesentlich mehr machen, wenn es nur den Willen dazu gäbe — aber das wäre zweifellos ein längerfristiges Projekt, das nicht ins immer weiter um sich greifende Quartalsdenken passt.

Damit ist ein anderer Aspekt berührt: Bei Pressekonferenzen und auch bei Kundenveranstaltungen von Grass Valley geht es oft gar nicht um die Branche und eigentlich auch nicht um die Interessen und Bedürfnisse der Anwesenden, sondern es geht fast ausschließlich um betriebswirtschaftliche Aspekte: Man spricht nicht zur Branche, sondern zu den Analysten. Im Zentrum stehen letztlich nicht die Produkte, sondern der indirekte Blick auf den Börsenkurs. Natürlich ist am Ende des Tages immer der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens entscheidend, aber der stellt sich ganz sicher nicht ein, wenn man dabei den Blick auf die Branche und auf die Kunden verliert.

Denkwürdig ist in diesem Zusammenhang der Auftritt des Thomson-Konzernchefs Frank Dangeard bei einer Grass-Valley-Veranstaltung während der IBC2006. Dort machte er den anwesenden Mitarbeitern von Grass Valley, den versammelten Broadcast-Kunden und der Fachpresse relativ unverblümt deutlich, dass Grass Valley im Gesamtkonzern nur eine relativ unbedeutende, untergeordnete Rolle spiele und nur vergleichsweise wenig zum Konzernumsatz beitrage. Das war zwar ziemlich ungeschickt und undiplomatisch, denn sicher freute sich keiner der Anwesenden darüber, auf die eigene Bedeutungslosigkeit hingewiesen zu werden, aber es war gleichzeitig auch ehrlich und wahr: Grass Valley repräsentiert in Wahrheit nicht das Kerngeschäft von Thomson.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf gewinnt eine aktuelle Entwicklung für Grass Valley an Bedeutung: Derzeit haben Investment-Banken Thomson ins Visier genommen und planen, wie man in verschiedenen Wirtschaftspublikationen lesen konnte — je nach Lesart — den erweiterten Einstieg bei oder die Übernahme von Thomson. Noch ist fast alles offen, denn obwohl der französische Staat angeblich keine Maßnahmen ergreifen würde, um den ehemals halbstaatlichen Konzern zu schützen, ist hier sicherlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Was aber passieren würde, wenn Investment-Banken das Ruder bei Thomson übernähmen, das kann man an vielen Beispielen der jüngeren Wirtschaftsgeschichte besichtigen: Üblicherweise werden Konzerne mit unterschiedlichen Geschäftsfeldern von den Investment-Bankern filetiert und mindestens einzelne Teile dann möglichst gewinnbringend veräußert. Geringverdiener und Verlustbringer unter den Konzerndivisionen werden in der Regel schnell abgestoßen oder abgewickelt. Was das für einen Unternehmensteil bedeuten kann, der zwar profitabel ist und angeblich über beträchtliches Vermögen verfügt, den aber offenbar selbst die eigene Konzernleitung für letztlich unbedeutend hält, kann man sich leicht ausmalen.

Es wäre eine Ironie der Wirtschaftsgeschichte, wenn Grass Valley, ein Unternehmen, das sich in jüngster Zeit durch eine aggressive Akquisitionsstrategie auszeichnete und durch Zukäufe wachsen wollte, nun selbst verkauft und eventuell sogar wieder zerlegt würde. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Rahmenbedingungen entwickeln und ob sich die wechselhafte Geschichte einiger Firmenteile von Grass Valley fortsetzt, die phasenweise selbstständig waren, aber auch schon mal Bosch und zu Philips gehörten.

Bei den Endkunden machte sich Grass Valley in jüngster Zeit zumindest mit einzelnen Aktionen nicht unbedingt beliebt. Dass in der Branche mit harten Bandagen gekämpft wird, gehört zum Geschäft. Wenn aber Lieferanten sich in das Geschäft ihrer Kunden einmischen und/oder mit ihnen konkurrieren, dann führt das in der Regel schnell zu Unmut oder gar bösem Blut. Und genau das hat Grass Valley auf verschiedenen Levels begonnen: So sicherte sich das Unternehmen im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft in einem Deal mit HBS mehr als nur ein Mitspracherecht in puncto technischer Ausstattung der Ü-Wagen, die von HBS für die Produktion in den Stadien eingesetzt werden. In der Praxis bedeutete das: Wer nicht einen Ü-Wagen mit einem überwiegenden Teil an Grass-Valley-Equipment baute oder aufbot, der hatte keine Chance, offiziell von der HBS mit Übertragungen aus den Stadien beauftragt zu werden. Das mögen die Manager von Grass Valley für einen geschickten Kunstgriff halten, um im europäischen HD-Markt schnell Fuß zu fassen, das Ganze wurde aber in der Branche zumindest mit gemischten Gefühlen aufgenommen: Welcher Ü-Wagen-Betreiber lässt sich schon gern vorschreiben, welche Kameras und welchen Mischer er in seinen HD-Ü-Wagen einbauen muss? Dass Grass Valley im Zuge dieses Deals nicht nur den Ü-Wagen-Dienstleistern auf die Füße trat, sondern gleich auch noch den Systemhäusern, ist ein zweiter Aspekt dieser Aktion.

So stellt sich derzeit in vielerlei Hinsicht die Frage: Quo vadis Grass Valley? Vielleicht liefert die unmittelbar bevorstehende NAB2006 schon Antworten auf diese Fragen – aber vielleicht auch nur neues Marketing-Geklingel.