Editorial, Kommentar: 14.07.2016

Auferstanden mit Augmented Reality

Nun hat der jüngste Hype auch Deutschland erreicht: Mit »Pokémon Go« hat Nintendo vor wenigen Tagen ein Spiel für Smartphones veröffentlicht, das es innerhalb weniger Tage schaffte, weltweit auf den vordersten Plätzen der App-Download-Charts zu landen.

Diesen Knüller hatte Nintendo bitter nötig: Der Spielkonsolenhersteller kämpft seit längerem damit, dass ihm die direkten Konkurrenten Sony und Microsoft den Rang ablaufen und in jüngster Zeit immer noch mehr Konkurrenz von Online-Spielplattformen und Spiele-Apps kommt. Doch dank »Pokémon Go« gelang Nintendo nun ein Befreiungsschlag der besonderen Sorte, den man auch messen und in Zahlen fassen kann: Quasi über Nacht stieg der Börsenwert von Nintendo sprunghaft an. Millionen Spieler luden die App auf ihre Smartphones und das Spiel schaffte es in der Folge auch prominent in die Medien — auch in solche, die normalerweise gar nicht oder nur selten und ganz nebenbei über Spiele berichten. Innerhalb weniger Tage ging dann der Aktienkurs des Herstellers durch die Decke: Nintendos Börsenwert stieg um mehrere Milliarden US-Dollar.

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So sieht Pokémon Go aus.

Was macht die App so erfolgreich? Das Spiel nutzt die Standortdaten und die Kamera des Smartphones und leitet die Spieler wie bei einer Art Schatzsuche zu Orten, wo man — vereinfacht gesagt — Pokémon-Monster fangen kann. Eine Kombination aus Smartphone-Spiel, Schnitzeljagd und Geocaching also. Das funktioniert so: Die App nutzt die Kamera des Smartphones und ergänzt die damit erfasste Umgebung auf dem Smartphone-Bildschirm mit computergenerierten Inhalten: Auf dem Smartphone sitzt dann in einer Tiefgarageneinfahrt in der Nachbarschaft plötzlich ein virtuelles Monster. »Pokémon Go« nutzt also Augmented Reality.

Diese Technologie war erst kürzlich — auf einem anderen Niveau und in einem anderen Zusammenhang — auch in der deutschen TV-Berichterstattung von der Euro2016 im Einsatz: Spieler und Aufstellungen wurden ins reale Studioumfeld eingeblendet. Ein Egripment-Kamerakran lieferte dabei per Trackingsystem exakte Positionsdaten und fütterte damit das Augmented-Reality-System von Vizrt. Das wiederum konnte auf dieser Basis ermitteln, wo sich die Kamera im Studio jeweils befand und dann in Echtzeit die Grafikelemente zuliefern, die exakt zum Realbild der Krankamera passten.

Ganz so ausgefeilt geht es bei »Pokémon Go« natürlich nicht zu. Doch die Faszination, die von der Kombination aus Realität und Computerinhalten ausgeht, scheint auch hier zu funktionieren. Ist das der endgültige Durchbruch für Augmented Reality auf breiter Front? Zumindest erfährt die Technologie mit dem Pokémon-Go-Hype einen echten Schub. Ob das langfristig wirkt, wird sich aber — wie so oft — noch zeigen müssen.

Was aber sicher ist: Nintendo kann damit einerseits — zumindest potenziell — aktuelle Bilder an allen Ecken der Welt sammeln und andererseits seine Spieler auch gezielt an bestimmte Orte locken: Damit lässt sich über die Einnahmen für den Download hinaus, weiteres Geld verdienen. Ob nun die Horrorvision von Millionen ferngesteuerter Smartphone-Zombies Realität wird, die am einen Coffeshop oder Tattoo-Studio vorbei zum nächsten gesteuert werden, weil dort das interessantere, wertvollere, seltenere Monster sitzt?