Broadcast, Top-Story: 01.03.2002

Mittendrin: Der deutschsprachige Ü-Wagen-Markt

In den vergangenen Jahren entwickelte sich im Umfeld der großen Sport- und Unterhaltungsproduktionen ein florierender Ü-Wagen-Markt im deutschsprachigen Raum. Rainer Kampe von der Planungsfirma Wireworx zeichnet im Gespräch mit www.film-tv-video.de ein aktuelles Bild der Szene.

B_0202_RainerKampeRainer Kampe kennt den AÜ-Markt nicht nur aus der planerischen und konzeptionellen Sicht des Ü-Wagen-Bauers, sondern kann auch auf jahrelange Praxiserfahrung als Ü-Wagen-Leiter zurückblicken.

Der deutschsprachige TV-Produktionsmarkt ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Wie viele Ü-Wagen-Anbieter sind denn derzeit in diesem Markt relevant?

Rainer Kampe: Das hängt natürlich davon ab, wie man in diesem Zusammenhang »relevant« definiert. Kleine bis mittlere Ü-Wagen, die Teilbereiche der Außenproduktion abdecken, gibt es mittlerweile in größerer Zahl, das sind schon zig kleinere bis mittlere Firmen, die sich hier tummeln und teilweise auch sehr professionell arbeiten. Große Ü-Wagen dagegen, die etwa eine internationale und nationale Abwicklung parallel in einem Wagen anbieten, also beispielsweise auch Fußballländerspiele abwickeln können, gibt es etwa ein gutes Dutzend. Dazu zählen Topvision mit drei Wagen, TVN, das ZDF mit dem MP3 und natürlich Wige mit seinen großen Ü-Wagen.

Wächst dieser Markt noch oder ist die Sättigung erreicht?

Rainer Kampe: In den vergangenen zwei bis drei Jahren wurden sehr viele neue Ü-Wagen gebaut, und auch im letzten Jahr wurde noch an etlichen Ü-Wagen gearbeitet. Gleichzeitig ist der Produktionsmarkt jedoch etwas geschrumpft, unter anderem deshalb, weil Auftraggeber wie Premiere ihr Engagement reduziert haben. Das war natürlich noch nicht absehbar, als die jetzt verfügbaren Ü-Wagen geplant wurden. Im Augenblick befindet sich der Markt deshalb eher in einer etwas unsichereren Phase. Das wird sich aber mit der Planung für die Olympischen Spiele in Griechenland und für die Fußball-WM 2006 wahrscheinlich schon wieder ändern.

Was sind derzeit die wichtigsten Anforderungen an einen Ü-Wagen-Betreiber? Kann man mit einem hohen Qualitätsanspruch in diesem hart umkämpften Markt bestehen?

Rainer Kampe: Man kann generell gesprochen immer dann bestehen, wenn man bestimmte Nischen besetzt. Im bislang immer umsatzstärksten Segment, beim Fußball, kann man das sicher nicht mehr, denn hier diktieren die Abwicklungsgesellschaften derzeit Minimalpreise. Zudem werden Fußball-Produktionen seit der Aufwandsreduktion bei Premiere ganz generell nicht mehr so aufwändig produziert, also nicht mehr mit 16 oder 20 Kameras, sondern häufig einfach nur noch mit 8 Kameras.
Wintersport-Events sind dagegen nach wie vor noch ein sehr interessanter Markt. Hier kann ein Anbieter wie tpc natürlich umfangreiche Erfahrungen vorweisen, denkt man etwa an die Abwicklung des Lauberhorn-Abfahrtsrennen, wo tpc ja ganze Ü-Wagen auf den Berg verlegt und dann internationale Sendungen abwickelt. Natürlich gibt es auch konkurrierende Firmen, die sich ebenfalls auf den Wintersport konzentriert haben. In Deutschland ist das im Biathlon TV Unit, im Rodel- und Bob-Bereich Digi-TV.
Weitere Nischen gibt es bei Unterhaltungssendungen, wo Qualität ebenfalls eine sehr wichtige Rolle spielt. Doch nur mit Unterhaltung, Klassik oder Konzertaufzeichnungen kann ein Unternehmen im derzeitigen Markt nicht existieren, deshalb braucht man einen gesunden Mix. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, Topvision macht praktisch fast ausschließlich Sport.

Wie werden große Wintersportereignisse abgewickelt, was sind die wichtigsten Faktoren, die es zu beachten gilt?

Rainer Kampe: Wenn man ein komplettes, internationales Endbild liefern will, benötigt man abhängig von der Sportart natürlich eine recht große Anzahl von Kameras. Bei Langlauf beispielsweise deutlich mehr, als etwa beim Skispringen, wo man eine internationale und nationale Abwicklung durchaus mit 10 bis 12 Kameras realisieren kann. Natürlich kann man aber auch Skispringen mit 30 Kameras abwickeln, so wie das RTL derzeit tut.
Ein wirklich wichtiger Punkt, den man bei Wintersport-Groß-Events besonders berücksichtigen muss, der aber oft unterschätzt wird, ist die Kommandoanlage. Man braucht ein wirklich ausgefuchstes System und eine vernünftige, durchdachte Einteilung, wer mit wem reden kann, wer wem aufs Ohr sprechen darf und kann. Schließlich muss hier das Hin- und Herschalten zwischen Kommentator, Reporter und Athleten einerseits und dem Wettkampfgeschehen andererseits perfekt abgewickelt werden: Jeder muss wissen, wann er was tun muss, wann er dran ist und das muss so im Hintergrund ablaufen, dass es für den Zuschauer nicht zu hören ist und bildseitig nicht stört. Das stellt die Dienstleister vor allem bei der nationalen Abwicklung vor große Herausforderungen: Da gibt es in der Regel ein Studio, in dem der Moderator die Gäste interviewt, dann gibt es noch einen Reporter in der Aufwärmzone und einen in der Mixed-Zone, der dort Interviews mit den Athleten macht. Man kann sich vorstellen, wie aufwändig es ist, alle mit Monitor und Hör/Sprechverbindungen zu versorgen und die Kommunikationswege zu definieren. Kurzum: Kommunikation ist immens wichtig und wird zunehmend wichtiger.

Gibt es so etwas wie aktuelle Trends in der Wintersport-Produktion?

Rainer Kampe: Was beim Wintersport massiv zunimmt, sind die virtuellen Systeme, mit denen man Vergleiche anstellen kann, beispielsweise die virtuelle Weite beim Skispringen oder die Vergleiche der Linienführung bei Abfahrtsrennen. Signalmäßig ist das nicht ganz einfach, denn die Kamera hierfür muss einjustiert werden und darf sich dann nicht bewegen, damit sie nicht dejustiert wird. Zudem ist die teilweise erhebliche Signalverzögerung der virtuellen Systeme natürlich nicht unproblematisch. Die Berücksichtigung solcher Laufzeitverzögerungen ist übrigens generell ein wichtiger Punkt, den man vor allem audioseitig berücksichtigen muss.

Diese Leistungen gehören aber nicht zum normalen Leistungsspektrum eines Ü-Wagen-Dienstleisters, sondern liegt bei separaten Dienstleistern, die ein fertiges Signal abgeben?

Rainer Kampe: Richtig, der Anbieter gibt ein fertiges Signal ab, das im Ü-Wagen individuell am Mischer liegt. Es gibt aber auch andere Konstrukte: Bei RTL etwa ist die virtuelle Kamera gleichzeitig die Führungskamera des internationalen Bildes. Im internationalen Bild ist aber die virtuelle Linie nicht mit drin. Statt dessen wird diese Kamera dem internationalen Ü-Wagen »clean«, also ohne die virtuelle Linie zur Verfügung gestellt und im Prinzip nur mit einer Kennung durchgereicht.

Derzeit wird offenbar das Dartfish-Analyse-System sehr oft eingesetzt. Gibt es auch noch andere interessante Anbieter?

Rainer Kampe: Die gibt es schon. Generell muss man bei diesen Systemen verschiedene Ansätze unterscheiden: Systeme, die eine virtuelle Linie erstellen, basieren meist auf einem VR-System, wie es die Firmen Orad oder Vizrt anbieten. TV-Dienstleister wie beispielsweise Wige, die mit Vizrt arbeiten, programmieren sich dann ihre eigene Schnittstelle und können über diesen Weg das virtuelle System für ihre Sportproduktionen nutzen.
Im Unterschied dazu gibt es die Analyse-Software-Systeme wie etwa das Dartfish-System, bei dem quasi zwei Fahrer gleichzeitig vor dem selben Hintergrund zu sehen sind. Das kann man eigentlich ganz banal mit einem EVS-System und einer Bildteilung realisieren, die entsprechend angelegt wird, aber ein System wie das von Dartfish ist aufwändiger und spektakulärer.

Was sind bei den Groß-Events typische Zeiten für Vorbereitung, Aufbau und Abbau für die Ü-Wagen-Technik?

Rainer Kampe: Da spielen viele Faktoren eine Rolle, unter anderem natürlich auch die Erfahrung des Dienstleisters und das Zusammenspiel mit dem Kunden. Ein Beispiel: Topvision, der Dienstleister für Premiere-Fußballspiele, benötigt aufgrund seiner großen Erfahrung sehr wenig Aufbauzeit. Defacto baut Topvision in der Regel erst morgens auf und mittags steht schon alles. Ein Anbieter mit weniger Erfahrung benötigt dagegen unter Umständen noch den gesamten Tag vorher. Aber so pauschal kann man diese Frage nicht beantworten, denn letztlich hängt das auch immer von den Rahmenbedingungen und der Arbeitsweise des jeweiligen Dienstleisters ab.

Stichwort Bezahlung. Wie wird bei solchen Projekten abgerechnet?

Rainer Kampe: Die Grundkalkulation besteht im Prinzip immer aus kostenreduzierten Anfahrtstagen, dann gibt es Aufbau- und Produktionstage. Jedes Projekt wird individuell ausgehandelt und auf der Basis dieser Einteilung kalkuliert. In der Regel ist es so, dass ja eine Vorbesichtigung stattfindet und aus den Kabelwegen und den Gegebenheiten vor Ort resultieren automatisch bestimmte Voranschläge und Aufbauzeiten für das Projekt. Das wissen Auftraggeber wie Auftragnehmer.

Ist für Ü-Wagen-Betreiber eher die erreichte Funktionalität wichtig oder auch die Basis, auf der diese Funktionalität erreicht wird, also ganz konkret die Gerätebestückung?

Rainer Kampe: Es tritt verstärkt auf, dass der Auftraggeber bestimmte Geräte will. Es wird beispielsweise sicher so sein, dass speziell die neue sechskanalige EVS-Maschine (Anmerkung der Redaktion: ein mehrkanaliger Diskrecorder mit spezieller Software für Sportapplikationen wie Slow-Motion und Highlight-Schnitt) zunehmend nachgefragt wird. Dazu muss man sehen, dass man in der Sportabwicklung ohne Festplatten-Technologie heutzutage nicht mehr auskommt. Der aufmerksame Zuschauer wundert sich vielleicht manchmal, weshalb immer zum passenden Zeitpunkt einer Sportübertragung das richtige Interview zur Verfügung steht. In der Regel sind diese Interviews nicht live, sondern sie wurden einige Minuten vorher begonnen, auf Platte aufgezeichnet und dann eingespielt. Teilweise ist es sogar so, dass das Interview noch geführt wird, während es um wenige Minuten zeitversetzt schon gesendet wird, wenn das gerade gut in den Sendeablauf passt. Durch diesen Trick lässt sich der Sendeablauf etwas vom Live-Betrieb abkoppeln. Mit Band war das alles gar nicht möglich. Gerade bei solchen Applikationen werden ganz spezielle Geräte nachgefragt.
Teilweise kommt es auch vor, dass bestimmte Leute einen speziellen Kameratypen verlangen. Aber letztlich hat hier derjenige, der die ganze Chose bezahlen muss, auch noch ein Wörtchen mitzureden, deshalb werden konkrete Gerätewünsche nicht immer berücksichtigt.
Bei Kommando-Anlagen kann man einen ganz ähnlichen Trend feststellen, weil sich hier das Equipment von Riedel einfach durchgesetzt hat und auch viele Redakteure dieses System kennen und dann immer wieder anfordern. Das ist übrigens ein wichtiges Kriterium für oder gegen ein System bei sonst gleicher Leistungsfähigkeit, denn ein System, das bekannt ist, wird immer schon allein deshalb immer wieder angefordert, ganz nach der Devise »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht«.

Werden auch spezielle Bandformate angefordert?

Rainer Kampe: Eigentlich nicht. Im Prinzip liegt man als Anbieter mit Digi-Beta nie falsch. Teilweise wurde auch schon zusätzlich speziell DVCPRO angefordert. Wie es mit IMX weitergeht, weiß man noch nicht, aber wenn sich immer mehr Anbieter dafür entscheiden und auch von der redaktionellen Seite immer mehr darauf produziert und angeliefert wird, muss man das natürlich im Angebot haben.

Spielen Server zunehmend eine Rolle in den Ü-Wagen?

Rainer Kampe: Auch als Zuspieler für den Schnitt werden zunehmend Server und Platten eingesetzt, selbst wenn das Endprodukt des Schnitts immer noch ein Band ist. Die Highlight-Schnitt-Applikationen, etwa die »Bilder des Tages«, werden aber grundsätzlich nur von Platte produziert, das macht heute eigentlich niemand mehr vom Band. EVS hat sich hier mit dem Highlight-LSM mehr oder weniger durchgesetzt. Dieses System bietet eine sehr intuitive Benutzerführung, die sehr gut ankommt. Aber es gibt auch andere Anbieter, die eine Highlight-Schnitt-Software anbieten.

Stichwort Havarie: Gibt es da heutzutage überhaupt noch Möglichkeiten, Lösungs-Szenarien für extreme Havariefälle vorzusehen, etwa wenn man an die Kreuzschienen denkt?

Rainer Kampe: Es gibt natürlich verschiedene Szenarien, abhängig von dem Gerät, das den Dienst versagt. Wenn einmal der Mischer ausfallen sollte, kann man auf der Kreuzschiene wenigstens noch Hartschnitte zwischen den einzelnen Quellen ausführen. Wenn allerdings bei einem der modernen Ü-Wagen eine Kreuzschiene komplett ausfällt, lässt sich dieses Problem kaum noch lösen, obwohl es ja oft mehrere miteinander kombinierte und verschaltete Kreuzschienen gibt. Das ist, wenn überhaupt, nur zu bewältigen, wenn das Problem einige Stunden vor der Sendung auftritt. Für absolute Extremfälle gibt es heute keine Havarie mehr, dafür sind die Systeme zu komplex. Aber man berücksichtigt das in der Planung und im Betrieb natürlich so weit wie möglich mit mehreren Redundanzstufen, etwa mit mehreren Netzgeräten für wichtige Geräte und ähnlichem. Interessanterweise passiert im Sendebetrieb vergleichsweise wenig. Die zentralen Geräte funktionieren in der Regel recht zuverlässig. Wenn etwas ausfällt, dann passiert das eher kurz nach dem Aufbau, wenn die Geräte nach dem Transport wieder in Betrieb genommen werden. Aber solche Probleme lassen sich glücklicherweise bis zur Sendung meist lösen.

Der Gesprächspartner Rainer Kampe ist geschäftsführender Gesellschafter der Wireworx GmbH, die medientechnische Einrichtungen mit den Schwerpunkten Studio und Übertragungswagen plant und realisiert.

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