Editorial, Kommentar, Top-Story: 10.02.2010

Fake Reality

Die Gier nach immer schnellerer Berichterstattung, sie ist letztlich schon ein ganz altes Phänomen. Einst beruhte darauf der Wettbewerbsvorteil von Radio und Fernsehen gegenüber den Print-Medien. Und seit das Internet aus den Kinderschuhen heraus ist, machen eben News-Kanäle im Web allen anderen Medien unter diesem Aspekt die Hölle heiß.

»Be the First to Know«, so lautete für viele Jahre der Slogan von CNN, bis er vergangenen Herbst ersetzt wurde. Das darin formulierte Streben, es hat sich offenbar weit über CNN hinaus verselbständigt: auf der Medien- und auf der Empfängerseite ist es zum Credo, zum Selbstzweck mutiert.

Auf der Anbieterseite ist mittlerweile vielen die Geschwindigkeit zum alleinigen Fetisch geraten: »Wir müssen die Ersten sein, hau alles möglichst schnell raus!« Das Geschriebene prüfen, weitere Aspekte ergänzen, Stellungnahmen und Infos einholen? »Keine Zeit, keine Zeit!« So wird der eigentliche Inhalt auf dem Altar der Beschleunigung geopfert.

Und auf der Empfängerseite? Da hat sich der Typus des »Speedfreaks« geformt, der dem gleichen Götzenbild huldigt: »Weiß ich schon! Hab ich längst von XY erfahren.« Es geht nur darum, der Erste zu sein — ob die Info auch etwas nutzt, ob der Speedfreak damit etwas anfangen kann, ob sie irgendwelche Folgen hat: unwichtig. Genauso wie die Frage, ob die Info stimmt, aus verlässlicher Quelle stammt, ob sie in einen Kontext gestellt wurde.

Da treffen zwei Parteien aufeinander, die eine unheilvolle Kombination ergeben, in deren Folge etwa Radiosender immer öfter so tun, als würden sie live senden, auch wenn sie die Beiträge vorproduziert und intensiv bearbeitet haben. Die Live-Simulation ist dort heute Standard, egal ob es sich um Höreranrufe oder Interviews handelt. »Heute bei uns zu Gast: XYZ.« So heißt es auch, wenn der Moderator allein im Studio sitzt. Peinlich, wenn dann aktuelle Ereignisse oder Bedienfehler das Ganze als faulen Zauber enttarnen.

Echte Live-Berichterstattung wollen dagegen ARD und ZDF von den olympischen Winterspielen in Kanada bieten: In großem Umfang, in HD, als Auftakt des HDTV-Regelbetriebs der öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland. Und weil man die olympische Rekordjagd auch als Quotenfest und launige Sportfeierstunde gestalten will, wurde die lästige Pflichtübung, auch auf die Schattenseiten hinzuweisen, am Montag nach Mitternacht absolviert, wo es keinen stört: Da lief um 00.15 Uhr im Ersten eine interessante Reportage zum Thema Doping im Wintersport. Schön versendet.

So gestalten wir die Welt, ganz wie sie uns gefällt — und immer öfter ist es eine virtuelle Welt, eine fake reality eben.

Sie werden sehen.