Editorial, Kommentar, Top-Story: 28.01.2011

Wir müssen leider draußen bleiben

Wer viel mit Software arbeitet, begegnet zahllosen, oft seltsamen Effekten, die letztlich den Alltag in der IT-Welt prägen. Das gilt im Kleinen, bei all den zahlreichen Office-Anwendungen genauso, wie im Großen, bei anspruchsvollen Netzwerklösungen — oder, um in der Branche zu bleiben, bei all den file-basierten Produktionssystemen, die heutzutage im Einsatz sind. Die Tücke liegt im Detail, mit dem sich aber heutzutage allzuoft keiner mehr beschäftigen will: Alles muss schnell gehen und nur irgendwie funktionieren. Das endgültige Provisorium reicht meistens aus, es ist »good enough«. Nach einer wirklichen, tragfähigen Lösung wird oft gar nicht mehr gesucht: Das gilt im gleichen Maß auf der Hersteller-, wie auf der Anwenderseite.

Das ist die eine Seite: »Offene Systeme«, die von den Strategen und Marketingexperten der Hersteller gepriesen werden, die im Rahmen übergreifender Partnerschaften über gängige Schnittstellen zum Wohl des Kunden miteinander kommunizieren können. Selbst das hält wegen mangelnder Standardisierung oft keiner ernsthaften Praxisüberprüfung mehr Stand. Aber es kommt noch viel besser: Oft werden nämlich künstliche Hürden errichtet und Glaubenskriege auf dem Rücken der Kunden ausgetragen, weil die Hersteller glauben, nur so Marktanteile sichern und eigene Technologien etablieren zu können.

Angeblich gehören ja die großen Formatkriege der Vergangenheit an, in denen Videoformate wie Betacam und M2 zum Kampf antraten. Kann schon sein, aber Frieden ist trotzdem nicht eingekehrt: Getreu dem Motto »Business is war«, tobt eben nun ein unüberschaubarer Guerillakrieg und die Gefechte finden heutzutage unerwartet, unvorhersehbarer, aber in rascherer Folge statt.

Beispiele gefällig? Wieso brauchen Sony und Panasonic mit SxS und P2 jeweils eigene, inkompatible Spezial-Speichermedien für ihre Profi-Videogeräte? Wieso kommen derzeit immer mehr Camcorder auf, die intern mehr Bildqualität bieten, als sie selbst aufzeichnen können, so etwa der F3 von Sony und der AF101 von Panasonic?

AVCHD ist ein anderes Beispiel für den Kampf auf der Geräte-Ebene: Während die Anbieter von Camcordern und digitalen Fotoapparaten mittlerweile durchgängig AVCHD-Camcorder im Programm haben, lassen sich die Hersteller von NLE-Systemen sehr, sehr lange Zeit damit, vernünftige, praktikable und für den Kunden bequeme Lösungen zu integrieren, die eine native Bearbeitung mit Material dieses Codecs erlauben. Apple etwa wiederholt gebetsmühlenartig, dass man AVCHD als Distributionsformat betrachte und mit der Wandlung in ProRes ja eine Lösung für die Verarbeitung von AVCHD-Material biete.

Die Flash-Verweigerung beim iPad lässt grüßen: Internetvideo ist ohne Flash derzeit letztlich nicht denkbar, doch was kümmert das Apple? Das iPad unterstützt Flash nicht und damit basta. Und letztlich gibt der Markt dem Hersteller Recht: Das iPad geht auch ohne Flash-Kompatibilität weg wie warme Semmeln. Mögen sich andere Tablet-Hersteller damit abmühen, diese Technologie zu integrieren.

Ein anderes Feld für die Übertragung der Formatkriege in die Gegenwart, sind die zahlreichen verfügbaren Speichermedien, die es für bandlose Camcorder gibt. Wer soll da eigentlich noch durchblicken? Aber gerade in diesem Bereich gibt es auch einen Hoffnungsschimmer: Sony versuchte sehr lange, seine Speichermedien Memory Stick und SxS als einzige Speicherkarten zu unterstützen. Letztlich brachten aber findige Zubehörhersteller und genervte Anwender den Hersteller doch dazu, in puncto SxS und Memory Stick mal den Reality-Check zu wagen: Und siehe da, mittlerweile können SDHC-Speicherkarten — in einigen Fällen mittels Sony-Adapter, in einigen direkt — bei Sony-Camcordern verwendet werden. Mal sehen, wie lange Panasonic noch an P2 festhält, wo doch SDXC verfügbar ist …

Ja, die Zeit der großen Formatkriege mag vorbei sein — aber leichter ist es für die Kunden dadurch nicht geworden, denn die Auseinandersetzungen der Hersteller haben sich eben nur auf eine andere Ebene verlagert.

Sie werden sehen.

Autor
Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller
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