Editorial, Kommentar, Top-Story: 18.06.2013

Die Zeiten ändern sich. Wirklich?

Genau heute vor 60 Jahren gab es in Deutschland einen Aufstand. Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen, die am Vortag in Berlin stattgefunden hatten, waren immer weiter angewachsen, mündeten in einen Aufruf zum Generalstreik und führten zu einem antistalinistischen Aufstand am 17. Juni 1953 — an mehr als 500 Orten in der DDR.

Streiks, Kundgebungen und teilweise gewalttätige Demonstrationen, die Besetzung zahlreicher Behörden und offizieller Einrichtungen fanden statt. Schließlich wurde über weite Teile der DDR der Ausnahmezustand verhängt und sowjetische Panzer wurden zur Niederschlagung des Aufstands eingesetzt. Es gab mehr als 50 Tote, teilweise durch standrechtliche Erschießungen. Zahllose Verletzte waren ebenfalls Opfer der Geschehnisse dieser Tage.

Ruft das bei Ihnen irgendwelche Assoziationen wach, ziehen Sie möglicherweise Parallelen zu aktuellen Ereignissen? Auch wenn das aus historischer Sicht nicht ganz korrekt ist, stehen Sie mit einer solchen Sicht sicher nicht allein. Dabei empfiehlt es sich, auch stets im Auge zu behalten, dass der blutige Aufstand auf deutschem Boden einerseits erst 60 Jahre zurückliegt und andererseits erst 1989 im zweiten Anlauf eine erfolgreiche friedliche Revolution stattfand. Jede Art von vorschnellem Urteil verbietet sich schon aus diesem Grund ganz automatisch.

Eine entscheidende Rolle bei der Information der DDR-Bürger über die Ereignisse des 17. Juni 1953 kam dem Westberliner Radiosender Rias zu. Und heute? Facebook, Twitter und das Internet insgesamt, haben auch in diesem Bereich zumindest teilweise die Rolle von Radio und Fernsehen eingenommen, wie man schon beim sogenannten arabischen Frühling sehen konnte.

Hier liegt ein Unterschied begründet, der sehr viele Aspekte und Facetten aufweist — und bei weitem nicht nur Positive. Wie etwa gehe ich als Nachrichtenjournalist mit Material um, das als Handy-Video ins Web hochgeladen wurde und Situationen aus Krisenregionen zeigt? Die Technik ist mittlerweile in der Lage, solche Quellen schnell und meist auch in passabler Qualität einzubinden. Twitter-Feeds und Facebook-Posts sind Bestandteil vieler Sendekonzepte geworden. Oft weiß man aber gar nicht, woher die Videos stammen und was sie zeigen — und man kann sich dann viele Fragen stellen: Kampfhandlungen welcher Konfliktpartei sind zu sehen, wann und wo wurden sie aufgenommen? Von wem und mit welcher Intention?

Wie kann man überhaupt sicherstellen, dass es sich bei einem bestimmten Handy-Video nicht um ein gezielt platziertes Video von der einen oder anderen Seite handelt? Schließlich stammt das meiste Material von Betroffenen und/oder aktiv Handelnden, die eine klare Position im jeweiligen Konflikt einnehmen und nicht einmal im Ansatz als neutrale, objektive Beobachter gelten können, die versuchen, kritisch und ausgewogen zu berichten und ihre Erlebnisse in einen größeren Kontext einzuordnen. Wer kann sicherstellen, dass Facebook-Posts tatsächlichen vom vermeintlichen Verfasser stammen, die »Likes« einer Seite oder einer Meldung nicht von einer Agentur vermittelt wurden und die live eingeblendeten Tweets nicht gefaked sind?

Mit Fragen wie diesen soll und muss sich der Medienbetrieb auseinandersetzen, wenn er sicherstellen will, dass man auch künftig noch den Bildern und Nachrichten vertrauen kann, die man zu sehen bekommt. Das sollte etwas Mühe Wert sein.

Und es gibt noch viele anderen Aspekte dieser ganzen Angelegenheit, die die Medien betreffen. Wäre etwa Joschka Fischer jemals Außenminister geworden, wenn er Bilder aus seiner Randale-Zeit online gepostet hätte und diese nicht erst Jahre später herausgekramt worden wären?

Und wenn die sozialen Medien aufgrund ihrer »Schwarmaspekte« auch möglicherweise nicht so leicht zu steuern sind, wie etwa die klassischen Medien, so bieten sie doch viele andere Möglichkeiten der staatlichen Intervention — wie spätestens seit dem Bekanntwerden des US-amerikanischen Überwachungsprogramms Prism jedem klar sein sollte. Auch hierzulande tut sich was: Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet, dass der Bundesnachrichtendienst in Deutschland 100 Millionen Euro in neue Überwachungsprogramme stecken will, um die technische Aufklärung personell und technisch ausbauen zu können.

Ein im Internet kursierendes Bild, das den US-Präsidenten zeigt, wie er vor seinem Computer sitzt und die Meldung erhält: »You’ve got mail – 15.026.567.034 new messages« oder der umgedichtete Slogan »Yes we scan«: Das sind humorige, amüsante Auseinandersetzungen mit einem sehr ernsten Thema.

Dass die sogenannten »sozialen Medien« aber über solche Meinungsäußerungen hinaus eine wichtige Rolle in Konfliktsituationen, bei Aufständen und der Organisation von Oppositionsbewegungen spielen, macht sie nur noch interessanter für Geheimdienste und Repressionsapparate.

Dieser Newsletter ist sicher nicht der geeignete Ort, um die angerissenen Fragen differenziert zu diskutieren oder gar zu beantworten. Wer aber, wenn nicht Medienleute, sollte sich damit beschäftigen?

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