Branche, Report, Top-Story: 14.10.2010

Gekippt und verschoben: Das Oktoberfest als Tilt-Shift-Video

Mit ihrem speziellen Look entfalten Tilt-Shift-Videos eine ganz eigene, eigentümliche Wirkung. Wie man selbst Videos mit diesem Look produzieren kann, ohne aufwändiges Spezial-Equipment zu benötigen, erklärt Robert Stöger am praktischen Beispiel einer Produktion, die er für das Jugendformat On3 des Bayerischen Rundfunks realisiert hat. Die Hauptrolle spielt in dem Clip das Münchener Oktoberfest — die »Wiesn«, wie der Einheimische dazu sagt.

Tilt-Shift-Videos sind derzeit angesagt: Die Telekom verwendet den Look in ihren aktuellen Werbespots und im Internet finden sich viele Beispiele dafür, wie Filmemacher mit den Tilt-Shift-Stilmitteln ganze Städte wie New York, Sydney oder Berlin in bunte Spielzeuglandschaften verwandeln. Neben atmosphärischen Stimmungsbildern gibt es auch recht aufwändige Kurzfilme in diesem Look (einer ist am Textende eingebunden).

Fast ist schon ein eigenes Subgenre entstanden, das den Tilt-Shift-Look nutzt, um einen anderen Blick auf die Welt zu eröffnen: Seltsam fremd und doch vertraut, zappelt und wuselt das Leben in einem quietschbunten Mikrokosmos, der miniaturisiert und surreal wirkt. Das Oktoberfest, das man auch in der Realität schon als ziemlich surreales Event erleben kann, drängt sich da förmlich auf, ebenfalls als Tilt-Shift-Clip verewigt zu werden.

Das Oktoberfest als Tilt-Shift-Video: Produziert von Robert Stöger.

Wie man das mit vertretbarem Aufwand und weit verbreitetem Equipment schafft, das wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags erklärt. Soviel vorweg: Gedreht wurde mit einer EX1R , die Postproduktion erfolgte in Final Cut Pro unter Einsatz eines preisgünstigen Plug-Ins.

Tilt-Shift-Look

Die meisten Tilt-Shift-Videos, die man online findet, tragen diese Bezeichnung wie einen Genre-Begriff oder eben die Beschreibung eines bestimmten Looks. Ursprünglich rührt der Begriff aber von bestimmten Spezialobjektiven her. Tilt-Shift-Objektive haben ihren Ursprung in der Architekturfotografie. Es sind vergleichsweise teure Spezialobjektive, die mit dem Ziel konstruiert wurden, in der Gebäudefotografie stürzende Linien schon bei der Aufnahme auszugleichen. Das Linsensystem kann hierfür gegenüber der Kameraachse verschoben und gekippt werden. Ein deutscher Optik-Hersteller, der sich mit diesem Thema auf der Objektivseite befasst, ist die Firma Zörk (Link am Textende).

Neben dem optischen Ausgleich stürzender Linien, eröffnen Tilt-Shift-Objektive auch zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten in puncto Schärfentiefe: die Schärfeebene kann gegenüber der Sensorebene geneigt und gekippt werden. Das gibt enormen Freiraum bei der Bildgestaltung, denn die Grenzen des Schärfebereichs müssen beim Einsatz solcher Objektive eben nicht mehr zwangsläufig parallel zur Sensorebene verlaufen, sondern man kann sie an die Objektposition anpassen. Dadurch lässt sich das Bildobjekt sehr plastisch und scharf innerhalb eines ansonsten unscharfen Bildes hervorheben und isolieren. Das bedeutet höchste Flexibilität bei einem Gestaltungselement, das viele Filmemacher nutzen wollen, wie der Trend zu Single-Large-Sensor-Camcordern belegt, die wenigstens etwas mehr Gestaltungsspielraum unter diesem Aspekt eröffnen, als »normale« Camcorder.

Nachteile der Tilt-Shift-Objektive: Man braucht viel Übung und Erfahrung, um damit sicher arbeiten zu können, man muss Equipment einsetzen, das überhaupt grundsätzlich die Montage von Tilt-Shift-Objektiven erlaubt, außerdem sind die Objektive deutlich größer als Standardobjektive, schlucken in vielen Fällen auch mehr Licht — und sie sind vergleichsweise teuer.

Deshalb wurden beim Großteil der aktuellen Tilt-Shift-Clips gar keine solchen Spezialobjektive eingesetzt, sondern der Look wurde durch eine Kombination aus bestimmten Bildgestaltungskriterien bei der Aufnahme und digitale Effekte in der Postproduktion nachempfunden — das gilt auch für den Oktoberfest-Clip. Puristen geißeln das mitunter als Imitat, der Mehrzahl der Tilt-Shift-Freunde ist das aber gleichgültig: Sie freuen sich am Look, den sie mit ihren Mitteln erreichen können. Die Unschärfen werden also heute in den meisten Fällen erst in der Postproduktion erzeugt, mit Compositing-Tools wie etwa After Effects von Adobe oder mit Plug-Ins für das jeweilige Schnittsystem.

Dreharbeiten

Prinzipiell kann mit jedem Camcorder die Bewegtbildaufnahme für einen Tilt-Shift-Clip realisiert werden. Robert Stöger nutzte einen PMW-EX1R von Sony und drehte mit 1080i50 und einer Datenrate von 35 Mbps im Format XDCAM EX. Die für den Wiesn-Clip geplanten Einstellungen erforderten zudem den Einsatz eines 1.6x Telekonverters von Century, den der Century-Vertrieb Bebob zur Verfügung stellte.

Gedreht wurde vom Kirchturm einer nahe an der Festwiese gelegenen Kirche (St. Paul), vom Riesenrad des Oktoberfests und vom Balkon einer Wohnung in Nähe der Theresienwiese. Die genannten, hohen Kamerastandpunkte verstärken den Eindruck im Video, dass man aus der Vogelperspektive auf eine Miniaturwelt blickt — eines der wichtigen Gestaltungskriterien der gängigen Tilt-Shift-Videos.

Die Kamera wurde auf Motive gerichtet, in denen der Tilt-Shift-Effekt besonders gut zur Geltung kommt. Hier empfiehlt es sich, vertikale Bildelemente zu vermeiden, die den kompletten Bildausschnitt durchlaufen, wie etwa Straßenlaternen oder Bäume.

Der Grund dafür: Man erspart sich Ärger und Zusatzarbeit in der Postproduction. Weil man ja die Schärfenebene erst nachträglich in der Postproduction durch Unschärfemasken am oberen und unteren Bildrand festlegt, muss man solche vertikalen Elemente umständlich unscharf oder scharf maskieren, wenn man einen stimmigen Bildeindruck erreichen will. Man kann sich also bereits beim Dreh durch entsprechende Kadrierung viel nachträgliche Arbeit ersparen.

Der Tilt-Shift-Effekt kommt besonders dann gut zur Geltung, wenn sich viele Elemente im Bildausschnitt bewegen: Menschen, Tiere, Fahrzeuge. Beim Oktoberfest mit all seinen rotierenden und pendelnden Fahrgeschäften, sowie dem enormen Besucherandrang, war es natürlich keine große Herausforderung, unter diesem Aspekt passende Szenen zu finden.

Für das spätere Sounddesign ist es zudem sinnvoll, direkt am Ort des Geschehens zusätzlich Tonaufnahmen zu machen. Baut man diese dann mit etwa 1,5 facher Geschwindigkeit in den Clip ein, lässt der akustische »Mickey-Maus-Effekt«, die Menschen auch auf der Audio-Ebene kleiner wirken. Ungefähr zwei Drehtage lieferten das komplette Ausgangsmaterial für den Tilt-Shift-Clip.

Tilt-Shift in der Nachbearbeitung

Gleichgültig welches Tool oder Plug-In man verwendet, die Bearbeitungsschritte für den Tilt-Shift-Look sind in der Nachbearbeitung immer ähnlich:

Farbsättigung und Kontrast erhöhen: Quietschbunte Farben tragen dazu bei, die Szenerie in eine künstliche Welt zu entrücken. Ein erhöhter Kontrast verstärkt diesen Effekt.

Zeitraffer: Lässt man die Szene mit etwa fünffacher Geschwindigkeit ablaufen, trägt diese zeitliche Komprimierung gehörig zum Wuselfaktor bei. Diesen nachträglichen Zeitraffer sollte man aber schon bei den Dreharbeiten einplanen: Die Aufnahmen müssen bei fünffachem Zeitraffer für eine spätere Länge von drei Sekunden, bei der Aufnahme 15 Sekunden lang sein. Die einzelnen Einstellungen also lieber länger stehen lassen, um für den Schnitt genügend »Fleisch« zu haben, wenn man etwa auf den Beat der Musik schneiden will.

Unschärfemasken: Bei der Aufnahme aus einer erhöhten Perspektive im Weitwinkelbereich ist die Schärfentiefe riesig. Für den Spielzeugwelt-Look müssen also Unschärfen nachträglich künstlich eingebaut werden. Dies ist der aufwändigste Bearbeitungsschritt, denn es erfordert Mitdenken und Experimentieren, Schärfe und Unschärfe überzeugend zu gestalten, um ein stimmiges Ergebnis zu erreichen. Es ist keinesfalls damit getan, einfach am oberen und unteren Bildrand eine Unschärfemaske zu legen: Das Ergebnis wäre äußert unnatürlich und würde die ganze Arbeit massiv entwerten. Für die Schärfeselektion müssen deshalb einzelne Bildelemente — je nach dem ob sie sich im Schärfebereich befinden oder nicht — scharf oder unscharf ausmaskiert werden.

Tilt-Shift mit ShrinkRay in Final Cut Pro

Es gibt mittlerweile verschiedene Tools und Plug-Ins, mit denen sich die genannten, prinzipiellen Bearbeitungsschritte enorm vereinfachen lassen. Beim Oktoberfest-Clip, der mit Final Cut Pro nachbearbeitet wurde, kam die Master-Vorlage ShrinkRay von CrumblePop zum Einsatz.  Anders als bei gewöhnlichen Effekt-Plug-Ins zieht man hierbei nicht einfach einen Effekt auf den gewünschten Clip, sondern zieht umgekehrt den Original-Clip in eine Drop-Zone der Master-Vorlage. Dort können Parameter etwa für Position und Tiefe der Schärfenebene beeinflusst werden. Diese Master-Vorlage passt man dann noch in der Länge an und platziert sie in der Timeline.

Automatisch werden durch das Plug-In auch Farbsättigung und Kontrast angehoben, der fünffache Zeitraffereffekt generiert und eine Standard-Unschärfemaske am oberen und unteren Bildrand erzeugt, die man nachträglich noch verfeinern kann.

Als weitere Option können nun per Drag and Drop zusätzliche Schärfe- und Unschärfe-Patches für Bildelemente gesetzt werden, die aus oder in die Schärfeebene ragen, wie etwa Lichtmasten oder Baumkronen. Die Handhabung ist denkbar einfach und geht im Vergleich zu einer komplett manuellen Ausmaskierung relativ schnell.

Hin und wieder würde man sich jedoch noch mehr Optionen und Parameter für die Schärfeselektion wünschen. Weil jeweils nur ein großer und ein schmaler Schärfe- und Unschärfe-Patch zur Verfügung steht, muss man zu oft Kompromisse eingehen und sich entscheiden, welchem störenden Bildelement man nun die vorhandenen Patches verpasst oder welche optisch nicht korrekten Bildelemente man in Kauf nehmen muss. Schöner wäre es, selbst die Anzahl der Patches festlegen zu können. Auch sind die Übergänge von scharfen zu unscharfen Bereichen oft zu hart, den Schärfeverlaufs einstellen zu können, wurde hier leider nicht implementiert. Des weiteren kann der Grad der Anhebung der Farbsättigung, des Kontrastes und des Zeitraffereffektes manuell nicht angepasst werden.

Obwohl man mit den genannten Defiziten von ShrinkRay leben muss, bleibt ein positives Fazit bei der Verwendung dieser Master-Vorlage: Schneller ist der Tilt-Shift-Look innerhalb von Final Cut Pro mit Hilfe eines relativ günstigen Tools kaum umzusetzen: ShrinkRay kostet rund 50 US-Dollar.

Das Oktoberfest als Tilt-Shift-Video: Produziert von Robert Stöger.

Zum Ausklang und um Lust auf eigene Tilt-Shift-Videos zu machen: Ein Kurzfilm des in der Community hoch angesehenen Tilt-Shift-Filmers Keith Loutit aus Australien. Der Film steht auch auf der Kurzfilm-Plattform Future Shorts bereit.

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Autor
Nonkoform, Stöger

Bildrechte
Robert Stöger (12), Jeff Dean (1)

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