Branche, Top-Story: 06.05.2013

Dokfest München 2013: Vorschau und Empfehlungen

Am 8. Mai 2013 beginnt in München das 28. Internationale Dokumentarfilmfestival München mit einem Programm aus mehr als 130 Filmen, die in 12 verschiedenen Reihen präsentiert werden. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternchen ab.

Das 28. Internationale Dokumentarfilmfestival München in Zahlen:

131 Filme aus
98 Ländern, ausgewählt aus rund
1.000 Einreichungen. Gruppiert in
12 Reihen mit
8 Wettbewerben.
11 Weltpremieren,
6 Europapremieren,
21 Deutschlandpremieren.
30.000 Euro Preisgeld.

Filme
Die 727 Tage ohne Karamo

Österreichern, die Ausländer heiraten, wird allem Anschein nach grundsätzlich unterstellt, es handle sich um eine Scheinehe und dem Staat solle eine Last aufgebürdet werden — mit diesem Eindruck lässt einen zumindest dieser Film zurück.
Die gemischten Paare in diesem Film berichten über ihre alltägliche Last und eine der Betroffenen bringt es auf den Punkt: Heiraten ist unter diesen Vorzeichen so, als bekäme man ein weiteres Kind, denn der Österreicher in der Beziehung haftet für alles, während der Partner weitgehend entmündigt ist.
Beeindruckend ist an diesem Film vor allem seine Bildgestaltung. Die Macher haben auch intensiv in die Farbgestaltung eingegriffen und wenn eine »Fremden-Klasse« zum Deutschkurs antritt, dann sind alle in gelblicher Farbnuance gekleidet. Diese Harmonisierung der Bilder beruhigt zunächst, fasziniert und verschreckt aber am Ende: Braucht ein Dokumentarfilm einen Ausstatter und einen Kostümbildner? Fehlt nur noch, dass am Ende eingeblendet wird: »Unsere Protagonisten wurden von XY eingekleidet.«
Sehens-Wert: **

De Regels van Matthijs (Matthew`s Law)

Über Autisten gibt es viele Legenden — und dazu hat hauptsächlich das Kino beigetragen. Hier hingegen erleben wir Matthijs hautnah. Dem Filmemacher vertraut er, weil er in seinem Gesicht eindeutig lesen kann, was der Mann hinter der Kamera denkt: Sie waren Schulfreunde.
Matthijs hat sich ein dreistelliges Buchstaben-Zahlensystem für die Datumserfassung ausgedacht und verwendet es für sein Tagebuch, welches schon auf über achttausend Seiten angewachsen ist. Er lebt in einem Apartment, dessen Energieversorgung er nach seinen eigenen Vorstellungen umgestaltet. Mit dem Vermieter gerät er deshalb aneinander und die Problematik um die Wohnung treibt ihn zur Verzweiflung. Die Kamera ist immer dabei, auch wenn Matthijs von den Bürokraten in die Enge getrieben, ausrastet.
Sehens-Wert: *****

Fahrtwind

Mit dem Anliegen, die Füße ins Meer zu tauchen, beginnt die Filmemacherin eine Reise von Wien bis ans Kaspische Meer und reiht entlang der Reiseroute persönliche Alltagsbeobachtungen aneinander. Immer wieder trifft man Personengruppen intensiver: Binnenschiffer, Zigeuner, Donaufischer und Klosterschwestern. Dazwischen die Reisemittel Schiff, Bus und immer wieder Zug.
Das Besondere an diesem Film: Er ist auf Super-8 gedreht und die recht statischen Bilder der Handkamera werden begleitet von einer Originaltonkollage, die manchmal synchron scheint aber durchgängig eine entspannende Trennung der Bildimpressionen von den akustischen Räumen beinhaltet. Erzählt wird ausschließlich mit den Bildern und nicht mit Texten, Interviews oder Gesprächen. 82 Minuten Schauen und Hören.
Sehens-Wert: ****

Wrong Time, Wrong Place

Harald, Ritha, Tamta, Hakon, Hajin — sie alle waren zur falschen Zeit am falschen Ort: In Oslo oder auf der Insel Utoya, als am 22. Juli 2011 der rechtsextreme norwegische Massenmörder Breivik eine Autobombe zündete und auf die Teilnehmer eines Ferienlagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei schoss.
Drei der im Film Porträtierten überlebten, weil sie auf die Toilette geflüchtet waren und unentdeckt blieben. Tamta, die eigens aus Georgien angereist war, starb als letzte am Ufer, weil sie nicht schwimmen konnte.
Wie immer nach solchen Katastrophen stellen sich Betroffene die Frage, war es Schicksal oder Zufall, dass sie überlebt haben. Ein solches Thema bietet die Möglichkeit zu spektakulärer und sensationeller Darstellung. Darauf verzichten die Filmemacher ganz. In unaufgeregter Art besuchen Sie die Überlebenden und lassen sich von den Ereignissen erzählen.
Sehens-Wert: ***

Shirley – Visions of Reality

Edward Hopper ist als Maler des amerikanischen Realismus fast jedermann bekannt und hat in seinen Bildern einen unverwechselbaren oft nachempfundenen Stil entwickelt. Shirley ist eine fiktionale Person, gespielt von Stephanie Cumming.
Das Ganze wird als Rahmengeschichte erzählt: im Eisenbahnwagen (Chair Car 1965) schlägt die Frau ein Buch mit dem Titel »Shirley« auf. Daran reihen sich zwölf Hopper-Szenen jeweils datiert auf den 28. oder 29. August der Jahre 1932 bis 1963. In den einzelnen Szenen werden verschiedene Themen angesprochen, meist wie ein Hörspiel aus dem Off, manchmal auch synchron im On. Die Kamera bleibt in der Guckkastenperspektive, meist während der ganzen Szene in der Totalen, nur manchmal springt sie in eine Nahe. Für den Film hat man die Hopper-Bilder in ihre Bestandteile zerlegt und als Sets aufgebaut.
Sehens-Wert: **

Gulabi Gang

Gewalt gegen Frauen in Indien ist als Thema bis zu uns durchgedrungen und taugt vielleicht deshalb für den Eröffnungsfilm. Die Gulabi Gang (Pink Gruppe) wurde 2006 von Sampat Pal Devi gegründet — und was diese Frauen in pinken Saris und mit Bambusstöcken unternehmen, um die alltägliche Gewalt zu stoppen, das zeigt der Film, wenn er Sampat Pal Devi und ihre Mitstreiterinnen bei ihren Aktionen begleitet.
Die Aktivistin wird in ein Haus gerufen, wo die Schwiegertochter beim Kochen umkam und halb verbrannte. Devi stellt angesichts der Leiche unangenehme Fragen und bezweifelt die Darstellung der Familie, weil offensichtlich ein Mord vertuscht werden soll. Im Laufe der Films wird klar, wie schwierig die Thematik ist und wie weit die Rechtsauffassung der indischen Gesellschaft von unseren Normen entfernt ist. Aber es bewegt sich etwas. Die Frauen in Pink können bei den Wahlen Mitglieder der »Gulabi Gang« in Ämter bringen.
Sehens-Wert: *****

Der Imker

Der Kurde Ibrahim folgte seinen Kindern ins Schweizer Exil. Bescheiden hat er wieder mit ein paar Bienenvölkern als Imker angefangen. Weil das Gastland diesen Beruf aber nur als Hobby anerkennt, muss der Sozialhilfeempfänger zudem in einer Behindertenwerkstatt Ricola-Bonbons abpacken.
Ibrahim ist aber Imker mit Leib und Seele. 500 Bienenvölker hat er in Kurdistan besessen, bevor er als Verdächtiger ins Raster der Militärfandung geriet und sein Besitz zerstört wurde. Mit viel Geduld, Fingerspitzengefühl und Ausdauer versucht der alte Mann in der Schweiz einen neuen Start.
Sehens-Wert: ***

Nägel mit Köpfen

Wenn es um Beziehungen und eine gemeinsame Zukunft geht, fangen oft die Probleme an — und die haben auch der Filmemacher Marco und seine Freundin Marlene. Wollen sie zusammenbleiben? Die eigene Situation motiviert die Frage nach den Befindlichkeiten von Freunden in der Paarbeziehung und so erfahren wir von Klaus und Silke, Thomas und Nicolai und Hannes und Jenny, welche Probleme die Beziehung mit sich bringt und wie sie versuchen, ihre Zukunft zu meistern.
Es sind berufliche Schwierigkeiten, Nichtakzeptanz von schwulen Paaren und ein vergeblicher Kinderwunsch, die in geschickt verwobenen Filmsequenzen abgehandelt werden. Filmarbeit kann wie Therapie sein: In großer Offenheit diskutieren die Paare vor der Kamera.
Wenn der Ausflug mit dem Auto und der Freundin sprichwörtlich im Matsch stecken bleibt, dann inszeniert der Filmemacher geschickt die Beziehungssituation in anschaulichen Bildern — aber so gekonnt, dass es dem Zuschauer Spaß macht.
Sehens-Wert: ***

Sto Lyko – To the Wolf

Schäfer faszinieren immer wieder. Hier sind es arme Leute aus den Bergen in Griechenland, die in düsteren Bildern bei anhaltendem Regen unter Hochspannungsmasten ihrer Arbeit nachgehen und ein Überleben versuchen. Auch wenn die Filmemacher den Begriff des Fiktionalen in die PR-Diskussion um diesen Film bringen: Es ist ein Dokumentarfilm in dem sich die Leute selbst spielen — wie in allen anderen Dokumentarfilmen auch.
Sehens-Wert: ***

Einzelkämpfer

Die Filmemacherin hat in ihrer Jugend eine Karriere als Turmspringerin im DDR-Sport begonnen und fragt nun nach den Sporthelden von damals.
An den Beispielen der ehemaligen Größen Britta Baldus (Turmspringen), Udo Beyer (Kugelstoßen), Marita Koch (400-m-Lauf) und Ines Geipel (4 x 100-m-Staffel) bekommt man — unterfüttert mit viel Archivmaterial des DDR-Fernsehens — einen Einblick in das Sportsystem. Manche Weltrekorde von damals sind bis heute nicht eingestellt, was wohl auch am organisierten Doping lag, von dem nicht unbedingt alle Sportler Kenntnis hatten, aber unter dessen Spätfolgen viele auch heute noch leiden.
Da man bei Ines Geipel nach der Olympiade in Mexiko 1984 vermutete, sie könne sich absetzen, wurde sie aus dem Sport verbannt. 1989 floh sie in den Westen und als sie Einblick in ihre Stasiakte nahm, erfuhr sie, was ihr an Übel zugefügt worden war.
Die vier Protagonisten haben sich auf verschiedene Weise vom Leistungsprinzip des Sports in die freie Marktwirtschaft des Westkapitalismus gerettet.
Sehens-Wert: ***

Eine Art Liebe

Der Film erzählt die Geschichte des 30jährigen Kurden Nevzat, der aus einem Dorf in der Nähe des Van Sees stammt und versucht, einen Weg ins selbstbestimmte Leben zu finden. Dabei ist ihm der Filmemacher Gesprächspartner, Zuhörer, Freund und Ratgeber zugleich.
Die Orte der Handlung pendeln zwischen Istanbul, wo Nevzat auf dem Bau arbeitet, und dem kurdischen Heimatdorf und geben einen Einblick in das ländliche Familienleben.
Sehens-Wert: ***

Soldier on the Roof

Mitten in Hebron im Westjordanland lebt eine Gruppe von ungefähr 800 jüdischen Siedlern unter mehr als 160 000 Palästinensern. Geschützt werden die Siedler vom israelischen Militär, das auf den Dächern verschiedene Beobachtungsposten eingerichtet hat.
In einer der ersten Einstellungen des Films kommt ein israelischer Siedler ins Bild, um der Filmemacherin einen Blick auf die Stadt zu zeigen und auf Abrahams Grab. Dabei wird er von palästinensischen Jugendlichen gestört, die immer wieder rufen, das er sich auf Privatbesitz befinde: Gleich am Anfang des Film zeigt sich so das Dilemma der gesamten Stadt.
Die Filmemacherin hat das Vertrauen der jüdischen Siedler erworben und gewährt uns einen Einblick in deren Alltag. Dabei bleiben sie und die Kamera gekonnt neutral. Ihre Fragen wollen nicht polarisieren, sondern dienen allein dem Zweck, den Zustand zu ergründen. Natürlich gibt es keinen Kommentar und keine Wertung. Eines ist erschreckend: Wie beinfluss- und verführbar Kinder sein können.
Sehens-Wert: *****

Hudekamp — Ein Heimatfilm

Hudekamp ist eine Straße und Hochhaussiedlung westlich des Lübecker Stadtzentrums — und so ein Hochhaus mit seinen Bewohnern ist ein Mikrokosmos.
Über alle wacht Hausmeister Klaus mit seinen 20 Videokameras: »Die Mieter kennen sich teilweise nicht, da weiß der eine nicht über den anderen Bescheid — und ich sitze hier unten und weiß über alle Bescheid.« Dabei spielt er nicht Big Brother, sondern eher die Rolle des Sozialarbeiters.
Die Filmemacher haben sich verschiedene Mieter herausgesucht, die sie öfters besuchen und deren Beziehungen sie ergründen. Der 38jährige Ex-Junkie Sebastian vom 13. Stock kümmert sich um die 71jährige Witwe und Rentnerin Annemarie im 12. Stock. Ibo aus dem 11. Stock ist gerade erst 12 Jahre alt aber sorgt schon für seine drei Geschwister. Karsten aus der 2. Etage hat seine Wohnung zu besseren Zeiten gekauft. Jetzt sitzt er unter Fremden fest und hat sich mit seiner Frau verbarrikadiert. Adnan aus dem 6. Stock fährt jeden Tag nach Hamburg, um Berufsschullehrer zu werden.
Der Fahrstuhl im Hochhaus bringt den Zuschauer von einer in die nächste Geschichte und Flugaufnahmen mit dem Multikopter zeigen uns das Hochhaus aus ungewöhnlichen Perspektiven.
Sehens-Wert: ***

Der Kapitän und sein Pirat

Die Hansa Stavanger ist ein deutsches Containerschiff, das am 4. April 2009 vor der Küste Somalias von Piraten gekapert wurde. Nach 121 Tagen und einer Zahlung von 2.75 Millionen Dollar kam das Schiff frei.
Der Film zeigt einen Rückblick auf die Ereignisse aus der Sicht des Kapitäns Krzysztof Kotiuk und des Piratenanführers Ahado. Beide schildern die Ereignisse und obwohl sie konträre Interessen hatten, gab es doch einen gegenseitigen Respekt. Kapitän Kotiuk hatte während der Geiselhaft die Rückendeckung durch seine 24köpfige Besatzung verloren — aber das gehört zum Programm der Piraten: Zwietracht sähen.
Nach 30 Schiffsentführungen sei man sehr geübt in der Vorgehensweise bei Entführungen, sagt der Pirat. Er entpuppt sich als scharfer Beobachter und brillanter Analytiker. 
Sehens-Wert: ****

Roots

Der 79jährige Reisbauer Naoshi hat durch den Tsunami seinen Sohn verloren und sein Haus ist schwer beschädigt. Er will sein Haus wieder aufbauen, um einen Platz zum Sterben zu haben.
Konsequent setzt er diesen Plan gegen alle Einwände und auch die Interessen seiner Frau durch. Mit der Motorsäge fällt er eigenhändig die notwendigen Bäume und zeigt den jungen Männern, wie man es macht und mit welchem Ritual man an Ort und Stelle gleich einen neuen Baum pflanzt.
Sehens-Wert: ****

Wavumba

Masoud Muyongo ist Fischer an der Küste Kenias und ein alter Mann. Er träumt davon, noch einmal einen großen Hai zu fangen, bevor ihn die Kräfte dafür verlassen. Mit dem Enkel Lonya fährt er hinaus aufs Meer, ein weiser Mann, der sein Wissen weitergibt, aber gleichzeitig herrisch auf seinen eingeübten Handlungsweisen besteht.
Masoud ist einer der letzten Fischer vom Stamm der Wavumba, was übersetzt soviel heißt wie »die nach Fisch riechen«. Der Filmemacher selbst ist als Europäer an der Küste Kenias aufgewachsen, was er uns gleich zu Beginn des Films erzählt. Das Hausmädchen hat ihn mit ihren Geschichten auf das Thema vorbereitet. Vielleicht traut er seinem Protagonisten nicht so ganz, weshalb auch andere Personen über die Mythologie des Fischens und der Geister erzählen. Masoud fängt am Ende nur einen kleinen Hai und der Enkel eröffnet ihm, dass er sich woanders Arbeit suchen will. So bleibt der Traum vom großen Hai zunächst unerfüllt.
Sehens-Wert: ***

Café Tà Amon, King George Street, Jerusalem

Das Café Tà Amon ist letztlich nur ein kleiner Raum an der King George Street in Jerusalem, gegenüber der alten Knesset. Der Besitzer Mordachai Knoop hat es in den 50er Jahren von den Gründern gekauft. Seitdem ist es eine Art verlängertes Wohnzimmer der Knoops und zweite Heimat für Politiker, die israelische Linke, Schriftsteller und Künstler. In der Küche steht Hamis, ein Moslem aus Bethlehem.
Der Film zeigt den Alltag des Cafés und gleichzeitig ein Stück israelischer Geschichte, denn das israelische Pendant der europäischen 68er-Bewegung hatte ihr Zentrum in diesem Café. Und es gibt die Leute, die nach dem Sieben-Tage-Krieg eine Rückgabe der besetzten Gebiete gefordert hatten und damit eine Menge der heutigen Probleme verhindert hätten.
Ein Urteil über diesen Film wäre besonders subjektiv, weil der Autor dieser Zeilen an diesem Film mitgewirkt hat.

The Garden of Eden

Wasser, Regen, eine Art natürliches Freibad. Sakhne auf arabisch, Gan ha Schloscha auf hebräisch ist ein Nationalpark in Israel, der jährlich rund 400.000 Besucher anzieht. Eingebettet in das Alltagsgeschehen dieses Park erzählt der Film über vier Jahreszeiten die Geschichten verschiedener Menschen — und immer wieder geht es um das, was auch im Garten Eden die Hauptrolle spielte: Die Liebe, das Scheitern und den Verlust.
Neben den alltäglichen Beobachtungen erzählen verschiedene Protagonisten aus dem Off die Essenz ihres Lebens. Im Park trifft sich ein Querschnitt der israelischen Gesellschaft, und sie posen für die Kamera in lebenden Standbildern ähnlich der Fotos von Helen Levitt.
Sehens-Wert: *****

Mittsommernachtstango

Was hat der Tango mit Finnland zu tun? Man muss nur die irre Behauptung aufstellen, der Tango sei eine finnische Erfindung, von Seeleuten nach Argentinien gebracht und schon hat man das Grundkonzept für ein Roadmovie, bei dem drei argentinische Musiker die finnischen Wurzeln des Tango zu ergründen versuchen.
Wer den Tango liebt, wird sich freuen und ansonsten verstehen sich Musiker global überall.
Sehens-Wert: *

Erntehelfer

Cyriac Chittukalati ist von seinem Bischof in Indien als Aushilfspriester in die fränkische Provinz geschickt worden, denn dort gibt es keinen ausreichenden Priesternachwuchs mehr. Da sitzt er mit dem Handy und berichtet der Mutter wie ein Entwicklungshelfer, dass es im Dorf kein Internet gibt. Vieles muss er erst lernen, aber durch den fremden Blick auf die Dinge werden Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Alte Menschen allein daheim ohne Ansprache, das ist für den Inder unbegreiflich, ein Zustand mit dem er sich weniger anfreunden kann, als mit dem Schnee und der Kälte.
Nebenbei kommen auch noch so einige Glaubensfragen auf, die die meist alten Frauen untereinander diskutieren. Gibt es eine Auferstehung? Bis jetzt ist noch keiner zurückgekommen …
Über die Jahreszeiten hinweg findet sich Cyriac immer besser im Dorf zurecht und dann wird er wieder versetzt. Um den fremden Blick auf den Alltag zu betonen, hat der Filmemacher dem Protagonisten eine Kamera in die Hand gedrückt, und in grobkörnigen Bilder sieht der Zuschauer Alltagsbeobachtungen, die so anders eigentlich nicht sind.
Sehens-Wert: **

Miles & War

Das Centre for Humanitarian Dialog (HD) ist eine private Organisation zur Konfliktvermeidung und -lösung. Der Film begleitet drei führende Mitarbeiter des Zentrums, Dennis McNamara,  David Gorman, Martin Griffith auf unterschiedlichen Missionen in Darfur, Libyen und auf den Philippinen. Dort droht der Witz eines Clanchefs auf Kosten eines anderen in einem bewaffneten Konflikt zu enden.
Für ihre Tätigkeit fliegen die Friedensvermittler rund um die Welt und tun oft das gleiche, was Mediatoren auch in einem Ehestreit tun. Sie holen die verfeindeten Parteien an einen Tisch und versuchen in kleinen Schritten eine Einigung zu erzielen. McNamaras Assistentin hat diesen Film begonnen und bekommt einen tiefen Einblick in die Arbeit der Mediatoren. Zwischendurch, beim Warten, fängt sie kleine Weisheiten über die Arbeit auf, über das Suchtpotenzial, über die kleinen Schritte und die viele Geduld, die man aufbringen muss, wenn zwischen den Konfliktparteien verhandelt wird.
Sehens-Wert: ***

Du + Ich

Hiltraud hatte nach der Geburt eine Gelbsucht und in Folge dessen eine bleibende spastische Behinderung. In Franz hat sie einen nicht behinderten Partner fürs Leben gefunden. Der Film ist eine Langzeitbeobachtung des ungleichen Paars, wie es den Alltag meistert, ein Haus baut und am Ende heiratet.
Sehens-Wert: **

Cloudy Moutains

Ein Asbest-Tagebau in China, eine Gruppe von Arbeitern, die die Asbestfasern nach der Trennung von anderen Mineralien in Säcke abfüllt und stapelt. Geschützt nur durch Tücher vor dem Mund sind sie permanent dem Staub ausgesetzt. Sie wohnen in Plastikzelten neben der Produktionsstätte am Berg.
Arbeiten, Essen, Reden und Schlafen, so reihen sich die Tage aneinander. Der graue Asbeststaub hat alles überzogen, sodass man in den fast monochromen Bildern nach Farbe suchen muss.
Hauptpersonen des Films sind ein Vater und sein 17 Jahre alter Sohn, deren Hauptanliegen das Geldverdienen ist.
Der Film bleibt an diesem einen Ort, Verbindung zur Außenwelt wird nur durch das Telefon hergestellt, wenn die Protagonisten mit den Angehörigen sprechen. Immer wieder sind die Lebensbedingungen in China ein Thema der Gespräche. Man erfährt den Tagesverdienst der Arbeiter, aber auch, was eine Hochzeit oder ein Apartment kosten — und weiß, dass vieles für diese Arbeiter, so sehr sie sich auch abmühen, unerreichbar bleiben wird.
Sehens-Wert: ****

Meine keine Familie

Die Aktionsanalytische Organisation (AAO) wurde 1972 vom Ex-Hauptschullehrer und Wiener Aktionskünstler Otto Muehl gegründet. Sie wollte, als neues Lebensmodell der Nach-68er, die Kleinfamilie abschaffen und neue Formen des Zusammenlebens erproben. In dieses Experiment wurde der Filmemacher hineingeboren und er wächst in einer Kommune auf.
Drei potenzielle Väter stehen ihm zur Auswahl und nun als Erwachsener besucht er sie nacheinander — ebenso wie viele andere Kinder aus der Kommune, die er zu seiner Familie rechnet. Gemeinsam arbeiten sie, unterstützt durch Videoaufnahmen aus dem Kommunenalltag, ihre Vergangenheit auf. Dabei sind sie der Unterdrückung und auch sexuellem Missbrauch auf der Spur: In der Kommune wurde durch die Autorität Muehls Anpassung geübt.
Heute beklagen die Kinder von damals den Verlust der eigenen Willensbildung. Der Filmemacher analysiert das Scheitern des Experiments sehr genau mit Hilfe des umfangreichen Videomaterials aus den Kommunetagen.
Sehens-Wert: *****

A River changes Course

Drei Familien in Kambodscha, die im ländlichen Umfeld mit ihrer Arbeit ein Auskommen suchen und allesamt von der fortschreitenden Umweltzerstörung bedroht sind.
Da ist der Fischer, der mit dem Sohn loszieht und am Tag gerade mal 2,5 kg Fisch aus den Netzen holt. Weil die Erträge wegen Überfischung immer weiter sinken, schickt er schließlich den Sohn fort zur Arbeit für einen chinesischen Agrarkonzern. In Phnom Penh verdienen die Frauen beim Nähen von Säuglingskleidung 61 US-Dollar im Monat. Viel bleibt nicht übrig von dem Lohn und einige überlegen, wieder zurück in die Dörfer zu gehen. Ein gut fotografierter Film.
Sehens-Wert: ***

Klänge des Verschweigens

Der Onkel des Filmemachers war Musiker. Wegen seiner Homosexualität kam er schon in der Frühphase des dritten Reichs ins Konzentrationslager, aber er hat die Gefangenschaft in Mauthausen überlebt. In der Zeit nach dem Krieg und bis zu seinem Tod war dieses schreckliche Kapitel des eigenen Lebens ein Tabuthema und der Onkel blockte immer wieder ab, wenn der Neffe einen zaghaften Versuch machte, den Onkel zu einem Film zu überreden.
Jetzt ist doch noch ein Film daraus geworden — und manchmal scheint es, als wenn die Abwesenheit der Hauptperson, dieser zu wesentlich mehr Präsenz verhelfe und die Geschichte ungemein verdichte.
Sehens-Wert: ****

Ricky on Leacock

Richard Leacock war bis 2011 eine lebende Legende des Dokumentarfilms, die nicht oft genug erzählen konnte, wie sich alles entwickelt hat.
Sehens-Wert: *

Voice of a Nation

Der Filmemacher, ein Exil-Afghane aus London, bereist mit der Kamera sein Geburtsland und trifft in den verschiedenen Landesteilen die unterschiedlichsten Menschen.
Sehens-Wert: –

The Machine which Makes Everything Disappear

Die Filmemacherin lädt junge Menschen in Georgien zum Film-Casting ein. Vor einer kahlen Wand stehend, antworten sie auf die Fragen aus dem Off und geben Auskunft über ihre Situation, über ihre Gefühle und über ihre Träume. Schließlich kommt die Frage, welche Rolle sie gerne spielen wollen und ob sie sich nicht selber spielen können. Das ist jeweils der Anlass, mit der Kamera in ihr Leben zu springen und dem Zuschauer einen kleinen Aspekt daraus zu präsentieren.
Da ist der Junge, der dem Vater die Schuhe anzieht und ihn zum Bus für die Fahrt ins Krankenhaus bringt, weil er sich den Arm gebrochen hat. Da gibt es den 25jährigen Mann, der einem 150-Einwohner-Dorf vorsteht, in dem das Durchschnittsalter bei 70 Jahren liegt. Eine junge Frau, die früh von ihrer Mutter verlassen wurde, spielt beim ersten Wiedersehen ihren Scherz.
Die Einblicke in das reale Leben variieren von kleinen Beobachtungen bis zur theatralischen Inszenierung. 13 verschiedene Leben hat die Autorin vor die Kamera geholt und der einzig ältere unter den jungen Georgiern will noch eine kleine Nebenrolle ergattern. Er war schon immer vom Film fasziniert und merkt, dass es bald zu spät ist, um seinen Traum zu leben.
Sehens-Wert: *****

Forbidden Voices

Der Film stellt drei Bloggerinnen vor, die alle aus Ländern kommen, in denen die freie Meinung mehr oder weniger unterdrückt wird: Yoani Sánchez aus Kuba, Zeng Jinyan aus China und Farnaz Seifi aus Iran und Deutschland. Weltweit haben diese drei Frauen mit ihrer Kritik an den Verhältnissen für Aufsehen gesorgt, werden deshalb behindert, überwacht und bedroht.
Yoani Sánchez ist die bekannteste von ihnen und kann sich in Kuba vergleichsweise frei bewegen, vielleicht, weil Kuba in Sachen Internet ein Entwicklungsland ist und wenig Nutzer hat. Fanaz Seifi ist nach einer ersten Verhaftung aus dem Iran geflohen und arbeitet heute für die Deutsche Welle in Köln. Zeng Jinyan steht in China unter Hausarest und wird rund um die Uhr überwacht.
Sehens-Wert: ***

The last Days of the Arctic

Fotografen sind immer dankbare Protagonisten, weil sie erzählen und gleichzeitig Bilder zeigen können. Das spart dem Filmemacher eine ganze Menge Arbeit.
Der Film porträtiert den isländischen Fotografen Ragnar Axelsson, der eindrucksvolle Bilder von den Menschen seines Landes geschaffen hat. Leider gerät das Ganze zu einem langen Werbeclip für den Meister selbst und schrammt nur an der Oberfläche der Bilder entlang, auch wenn der Fotograf unaufhaltsam aus dem Off plappert.
Dass auch in der Arktis mit der fortschreitenden Entwicklung etwas verloren geht, ist ein all zu großer Allgemeinplatz. Das Buch zum Film gibt es beim Buchhändler ihres Vertrauens.
Sehenswert: –

Exposed

Der Film versammelt acht Stars der Neo-Burlesque, einer eigenwilligen Form des erotischen Tanzes — man könnte auch sagen: Stripper mit künstlerischem Anspruch — unter anderem Dirty Martiny, Mat Fraser, Bunny Love und Rose Wood. Neben Ausschnitten aus verschiedenen Showprogrammen erzählen die Tänzer und Tänzerinnen von den Hintergründen ihrer Arbeit. Leider gerät das ganze Stück zu einer filmischen Nummernrevue nach sehr konventionellen TV-Mustern.
Sehens-Wert: **

Moon Rider

Rasmus Christian Quaade ist ein dänischer Straßen- und Bahnradrennfahrer. Der Film erzählt in sehr eindrucksvollen Bildern von den Mühen dieses Sports, im wahren Wortsinn Radeln bis zum Umfallen, Radeln bis der Arzt kommt.
Ein großer Teil des Filmes ist auf Super-8 gedreht — und die unscharfen Bilder, die auslaufenden Filmenden, all die Unzulänglichkeit des Materials, sie unterstreichen visuell die unendlichen Mühen, die der Sportler auf sich nimmt, um dann doch nur den zweiten Platz zu errreichen.
Sehens-Wert: ***

Image-Problem

Die Schweiz hat ein Image-Problem, so finden die beiden Filmemacher und machen sich auf, dieses Problem mit ihren Landsleuten zu ergründen und zu diskutieren. Mit vorgehaltenem Mikrofon, das sie wie eine Lanze im Bild vor sich hertragen, schieben sie sich durch die Provinz und sprechen Menschen an.
Kritisiert wird das Verhalten gegen Ausländer, die Tätigkeiten der Banken und das Ausbeuten von Entwicklungsländern durch Rohstoffkonzerne. Schließlich entschuldigen sich die Protagonisten für all dieses Fehlverhalten und verlesen entsprechende Texte — zum Schluss entschuldigen sich die Filmemacher für ihren Umgang mit den Protagonisten. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Protagonisten in diesem Satirespiel von Anfang an keine Chance haben, der Grund, warum keine rechte Freude an diesem Film aufkommen mag.
Sehens-Wert: **

Fuck for Forest

Ein junger Mann kommt nach Hause zurück, in die bürgerliche Welt der Eltern — und schnell wird klar, dass er als der Gescheiterte gilt. Er ist Mitglied der Gruppe »Fuck for Forest«, die eine pornografische Web-Seite betreibt, um mit den Einnahmen den Regenwald zu retten.
Das Dilemma für den Dokumentaristen besteht darin, dass man nicht Pornografie zeigen kann, ohne selbst Pornografie zu sein: Das schamhafte Drumherum-Lavieren macht die Sache nicht besser. Schließlich reist die Gruppe mit dem erwirtschafteten Geld in den Regenwald, um zu helfen, stößt dort aber, konzeptionslos wie sie ist, auf völlige Ablehnung.
Sehens-Wert: **

Tendenzen

Aus den beschriebenen 35 Filmen, die natürlich nur einen Ausschnitt aus dem insgesamt 135 Filme umfassenden Programm des Dokumentarfilmfestivals darstellen, kann man ein paar Schlüsse ziehen, die vielleicht auch auf das ganze Festival und möglicherweise sogar auf das ganze aktuelle Dokumentarfilmschaffen übertragbar sind.

  • Die Ich-Bezogenheit des Filmemachers kommt in vielen Filmen zum Tragen, ist manchmal ein Element, ohne das die Geschichte gar nicht funktionieren würde (Klänge des Verschweigen), manchmal aber auch ein Element, das von der Geschichte ablenkt (Wavumba). In den folgenden Filmen bezieht sich der Ich-Erzähler mit ein: Einzelkämpfer, Nägel mit Köpfen, Fahrwind, Voice of a Nation, Meine keine Familie, Miles & War.
  • Plastiktüten im Wind sind derzeit ein sehr beliebtes Motiv und fielen in diversen Filmen auf, unter anderem in Fahrtwind, Mittsommernachtstango, Moon Rider.
  • Das Filmemachen wird zur Allgemeinqualifikation: Wenn es eine Geschichte zu erzählen gibt, dann greift man wahlweise zum Stift oder zur Kamera, um diese festzuhalten. Wer in seiner Arbeit Zugang zu Ereignissen hat, die einen guten Erzählstoff abgeben, der wird dann vorübergehend zum Filmemacher.
  • Kameras mit großem Sensor, wenn auch teilweise nur Fotoapparate, sind auch im Dokumentarfilm auf dem Vormarsch, mit all ihren Vor- und Nachteilen.
  • Sehgewohnheiten ändern sich und technische Fehler sind, da sie zuhauf auftreten, offenbar schon längst kein Element mehr, von dem man befürchtet, es könnte den Zuschauer aus dem Rezeptionszusammenhang reißen oder irgendwie irritieren. Macht erst der Anspruch, Fehler tunlichst zu vermeiden, sie wirklich sichtbar? Springende Blende, Suchen der Schärfe und Dreck in der Optik sind demnach nur mehr Signale, die uns vergegenwärtigen: Hier wird ein Film gezeigt.
  • Visuelle Spielereien wie der Tilt-Shift-Effekt, durch eingezogene Vorder- und Hintergrundunschärfen, übermäßigen Gebrauch von Zeitraffer und Zeitlupe — all dies kommt nur noch am Rande vor.
  • Super-8 ist wieder da und weil schon das Material beim Filmemachen zu bestimmten Formen zwingt, fallen die Produkte (Fahrtwind, Moon Rider) aus der Masse besonders heraus. Vielleicht liegt es daran, dass mit zunehmender Auflösung der Raum für die Phantasie des Zuschauers schwindet. Und wenn man ehrlich ist, will man Vieles eigentlich gar nicht so genau sehen.