Editorial, Kommentar: 01.09.2017

Vom Zwang, zu lesen

Manche Menschen können nicht lesen. Das ist meistens ein großer Nachteil. Andere hingegen müssen lesen. Immerzu, ständig und überall. Kaum tauchen irgendwo Buchstaben auf, lesen diese Menschen mit. Ein Nachteil muss das nicht sein, aber es kann durchaus mal lästig werden.

Ein Beispiel: Kaum kommt ein Film mit Untertiteln, lesen viele Menschen zwanghaft mit — auch wenn der Ton eingeschaltet ist und sie die gesprochene Sprache verstehen. Das lenkt von den Bildern ab und es kann auch nerven, wenn gesprochenes und geschriebenes Wort voneinander abweichen.
Selbst bei Plakaten fällt es den Betroffenen schwer, den Text zu ignorieren. Und bei den Headlines auf Zeitungskästen — und, und, und.

Lesezwang
Grenzbotschaften.

Keine Sorge, wir wollen hier nicht zur Gründung von Selbsthilfegruppen aufrufen oder Spendengelder einwerben. Wir fühlen uns auch, obwohl hier in der Redaktion teilweise massiv betroffen, nicht besonders benachteiligt und hilfsbedürftig — zumindest nicht in dieser Sache.

Obwohl man das Lesen erlernen muss, scheint die damit als mögliche Nebenwirkung einhergehende Zwangshandlung, ständig alles mitlesen zu müssen, tief verwurzelt zu sein: Schließlich bleibt dieses Verhalten oft auch bei demenzkranken Menschen erhalten, die schon viele andere Fähigkeiten eingebüßt haben: Die Chance, dass einem auf einer Demenzstation die Beschriftung des eigenen T-Shirts vorgelesen wird, scheint gar nicht so gering zu sein.

Auch Wiederholung stumpft die schwer vom Lesezwang Betroffenen ganz offenbar nicht ab, sondern kann sogar alles noch verschlimmern: Weil man sich unter Umständen Dinge einprägt, die man gar nicht lesen oder wissen wollte. Graffitis oder Parolen, die man schon hundertmal gelesen hat, liest man eben auch zum hundert und einten mal.

Aber dennoch ist Lesen natürlich insgesamt eine absolut positive und gute Sache, sonst hätten Sie ja gar nicht bis zu diesem Punkt des aktuellen Newsletters vordringen können — und wir müssten unser Geld ganz anders verdienen. Also müssen wir eben alle versuchen, mit all den Nebenwirkungen des Lesens zu leben, den positiven, wie den negativen.

Auch im Digitalzeitalter bleibt der Lesezwang natürlich virulent. Schauen sie einfach mal, was Smartphones mit Menschen machen.
 
Sie werden sehen.
 
  
P.S.: Eine kleine, lose mit diesem Thema verknüpfte Nebengeschichte zum Graffiti- und Parolenaspekt, aber nur für Hartgesottene (alle anderen sollten hier aussteigen).
Ausstieg nicht geschafft? Dann weiter im Text: Drei Parolen, die wahrscheinlich für immer im Kopf eines der Autoren festgepinnt sind, weil sie immer wieder zwanghaft gelesen wurden: Die RAF-Parole »Macht aus Buback Zwieback«, die nahe der Schule angesprüht war. »Lieber Schamlippen küssen, als Schlamm schippen müssen« stand hingegen auf der Rückseite einer Lagerhalle, an der die Zugfahrt während der Lehrzeit vorbeiführte. »Ich hab den Teufel gesehen, er war schöner als ich«, stammt von einer häufig genutzten Hundespazierstrecke. Man kann sich seine Erinnerungen eben nicht immer aussuchen.