Zwischen Tatort und Squid Game
Analyse, Fantasie und Zielgruppen-Fokus: Wie deutsche TV-Anbieter der Herausforderung durch Streaming inhaltlich begegnen können. Interview mit Andrea Zuska, Strategie-Expertin für Zielgruppen und Content.
Wer in der deutschen TV-Landschaft macht es denn richtig?
Andrea Zuska: Eine komplexe Frage, weil die Maßstäbe für »es richtig machen« so vielfältig sind. Gleichzeitig stehen uns nicht alle Daten zur Verfügung, mit denen sich die »richtig gemachten« Dinge objektiv messen ließen. Ich beantworte die Frage daher aus dem Blickwinkel der durch Streaming ausgelösten Veränderungen und auf Grundlage der verfügbaren Daten – insbesondere der AGF Daten:

In der ersten November-Woche ist es dem ZDF mit der »heute Show« und Jan Böhmermanns »ZDF Magazin Royale« gelungen, am späten Freitagabend mehr Zuschauer in der Zielgruppe 14-49 Jahre zu erreichen, als jedem anderen Sender in der Primetime dieses Abends. Die ARD hat am 10.11. mit «Terror. Fußball. Paris 2015″ bei den 14-49jährigen einen zweistelligen Marktanteil geholt und am 22.11. mit einem neuen Format, einem Live Krimi-Dinner, auf Anhieb die Marktführerschaft an diesem Abend geschafft. Sat1 hat Ende November zur besten Sendezeit mit »Der letzte Bulle« erfolgreich eine der großen, lokalen, fiktionalen Marken wiederbelebt – in Kooperation mit Prime Video. Linear, junge Zielgruppen, Marktführerschaft, Kooperation zwischen Wettbewerbern…diese Beispiele beweisen, dass es linear funktionieren kann, in diesen Fällen insbesondere mit den Faktoren Relevanz, Aktualität und Innovation.
Im deutschen Fernsehen funktionieren sowohl bei den privaten als auch bei öffentlich-rechtlichen TV-Sendern viele vermeintlich »alte« TV-Marken, die vor 20, 30, sogar 50 Jahren eingeführt worden sind, noch sehr gut. Was machen diese Marken richtig?
Andrea Zuska: Insbesondere bei den werbefinanzierten Anbietern ist eine Erklärung in der Struktur des Programms zu finden, dieses ist zu einem hohen Maß von Formaten und somit vielfach langjährig präsenten Marken geprägt. Bei den gut funktionierenden Marken ist tatsächlich interessant, sich genauer anzuschauen, worin ihr langjähriger Erfolg begründet ist, jenseits von individuellen oder subjektiven Fragen der inhaltlichen Ausrichtung und Qualität. Das erlaubt ein Replizieren dieser Faktoren – was für mich etwas anderes ist, als das schlichte Wiederholen von Altbewährtem. Alle diese Faktoren gehen letztendlich auf die Perspektive des Nutzenden und die Frage der Attraktivität und der Relevanz zurück und wirken häufig gleichzeitig:
Zielgruppenbedürfnisse: Inhalte funktionieren langfristig, wenn sie ein Bedürfnis nach Planbarkeit, Zuverlässigkeit und Vertrautheit bedienen, die Langfristigkeit sozusagen als Versprechen in sich tragen. Und sie tun es, weil es Zielgruppen gibt, die genau diese Bedürfnisse haben. Für diese Zielgruppen bietet TV einen sicheren Raum – und Protagonisten, die für diese Werte stehen. RTL verfügt mit Günter Jauch und »Wer wird Millionär?« über einen solchen sehr gut funktionierenden, berechenbaren Hafen. Die ARD mit »Die Sendung mit der Maus« über eine Entsprechung in einer ganz anderen, aber wichtigen Programm-Farbe. Solche Orte der Content-Vertrautheit können durch Streaming sogar noch an Strahlkraft gewinnen, denn: Manche Content-Zielgruppen fühlen sich von der durch Streaming dargestellten Veränderung, Vielfalt, Internationalität und Komplexität überfordert – oder suchen zum Streaming komplementäre lineare Content-Erlebnisse. Diese sehr unterschiedlichen Zielgruppen-Bedürfnisse beschreibt zum Beispiel das Digital Media Types Modell von GiM gut.
Relevanzerhalt: Andere Marken funktionieren langfristig, weil sie sich, wenn auch nur subtil, weiterentwickeln und damit relevant bleiben. Unter der Marke »Tatort« entstehen jedes Jahr neue Inhalte, mit neuen Themen, Ermittler-Teams, Schauorten. »Let’s Dance« oder »GNTM« erschließen regelmäßig neue Protagonisten-Gruppen und nutzen das Potential der Social Media Reichweiten dieser Protagonisten zur Ansprache neuer Zielgruppen.
Co-Viewing: Marken und Inhalte werden oder bleiben erfolgreich, wenn sie es schaffen, einen generationsübergreifenden Sog zu entwickeln, sie laden zu Co-Viewing im familiären Kontext ein. Vielen der linearen Quiz- und Unterhaltungsangebote scheint das gut zu gelingen. Ein guter internationaler Case ist zuletzt der Erfolg der britischen Umsetzung einer relativ neuen Formatmarke gewesen – die BBC hat mit der Celebrity-Version von »Die Verräter« einen beeindruckenden Erfolg in der Zielgruppe 16-24 erzielen können. Einer Gruppe, die für das TV als schwer erreichbar gilt. Das Beispiel zeigt auch, dass ein Marken-Zielgruppen-Fit, und – noch weiter gedacht – Content-Strategie an sich, nicht entlang von Generationsgrenzen gedacht werden sollte, sondern entlang von Bedürfnissen, Interessen und Verbreitungswegen.

Schließlich spielt bei den BBC »Verrätern« der letzte Faktor eine konkrete und entscheidende Rolle, nämlich Viralität durch Multi-Plattform-Verbreitung: In dem »The Celebrity Traitors« Fall hat die BBC eine direkte Vernetzung ihres BVOD Produktes, des BBC iPlayers, mit TikTok hergestellt. Offizielle Clips, Memes und User Generated Content haben eine ‚always on’ Präsenz erzeugt, die dem Format unabhängig von der linearen Ausstrahlung und on demand Verfügbarkeit auf den BBC eigenen Plattformen zur Sichtbarkeit verholfen hat. Das Format hat sich von Social Media zu einem Social Hit entwickelt, es hat ‚word of mouth‘ Empfehlungen generiert.
In der Analyse dazu ist ein guter, und eigentlich selbstverständlicher Satz gefallen: Nutzer kehren nicht zwangsläufig dem TV den Rücken – sehr wohl aber Inhalten, die für sie nicht relevant sind.
Was können Content-Anbieter konkret tun, um sich zukunftssicher aufzustellen?

Andrea Zuska: Für Content-Anbieter ist es unerlässlich, zu beobachten, zu verarbeiten und zu verstehen, woher ihre Zielgruppen und ihre Content-Bedürfnisse kommen und wohin sie sich bewegen werden. Daraufhin muss das eigene Portfolio ausgesteuert werden. Es geht um den Dreiklang der Analyse der bisherigen Content-Nutzung, der Erfassung aktueller Content-Bedürfnisse und der Bewertung ihrer zukünftigen Entwicklung. Die bisherige Content-Nutzung kann datenbasiert analysiert werden, für die Erfassung aktueller und die Ableitung zukünftiger Content-Bedürfnisse braucht es Forschungs- und Szenario-Arbeit. Dieser Dreiklang ist wichtig: Der Aspekt der Szenario-Arbeit geht, so meine Beobachtung, häufig durch eine Überbetonung der Datenarbeit unter.
Ein ganz konkreter Schritt, um den Zusammenhalt der Branche zu stärken und sie auf diese Weise zukunftssicher aufzustellen, wäre es, wenn Content-Anbieter in ihrer Rolle als Auftraggeber Zielgruppen-Wissen mit ihren Produzenten teilen würden. Und vielleicht auch Informationen dazu, wie die gemeinsam entwickelten Inhalte bei diesen Zielgruppen funktionieren? Man kann noch weiter gehen und sich die übergreifende Frage stellen, warum nicht alle Anbieter im deutschen Markt mit einem Zielgruppen-System arbeiten – schließlich analysieren und bedienen sie alle die selbe Grundgesamtheit.
Sie beraten Medienunternehmen dabei, in solchen Prozessen ihre Zielgruppen- und Content-Strategie zu schärfen. Was sind Ihre persönlichen Fokuspunkte dabei?
Andrea Zuska: Auch hier ein Dreiklang:
- Den persönlichen Geschmack und das persönliche Content-Verhalten zurückstellen und immer von den Nutzenden aus denken – was sehen, hören, lesen sie? Warum? Dabei faktenbasiert vorgehen – und damit meine ich insbesondere Umfrage- und Forschungsarbeit.
- Zielgruppen breit erfassen, auch wenn das konkrete Angebot für sie spitz ist. Welche Werte treiben sie an, welche Bedürfnisse befriedigt Medienkonsum bei ihnen? Wie informieren und wie kommunizieren sie über Content? Ziel ist es insbesondere, das gesamte Content- und Plattform-Portfolio zu erfassen d.h. nicht nur darauf zu schauen, was der oder die Nutzende bei mir schaut oder hört. Lassen sich Muster erkennen, die es mir erlauben, den Nutzenden situativ das richtige Programm anzubieten? Ich finde, das ist eine besonders spannende Frage.
- Ergebnisorientiert denken, gewonnene Informationen auch wirklich verwerten und konsequent in der Umsetzung sein: Was können wir unseren Zielgruppen auf Grundlage der Ergebnisse aus 1. und 2. anbieten, wie und wo können wir einen Vorsprung, einen wirklichen USP gegenüber dem Wettbewerb herstellen? Es klingt banal, aber: Strategieprozesse scheitern selten in der Phase der Forschung oder der Zusammenführung der Ergebnisse, sie scheitern gerne in der Phase der Maßnahmenplanung und Umsetzung.
Warum, glauben Sie, ist dem so?
Andrea Zuska:
Seite 1: Ausbau von Streaming-Modellen
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