Branche, Top-Story: 27.04.2014

Dokfest München 2014: Vorschau und Empfehlungen

Am 7. Mai 2014 beginnt das 29. Internationale Dokumentarfilmfestival München. Gezeigt wird ein Programm aus 137 Filmen in 13 verschiedenen Reihen. Der Doku-Kameramann Hans Albrecht Lusznat hat einen Teil der Filme schon gesehen und gibt hier seine ganz persönlichen Tipps und Bewertungen mit einer Abstufung von null bis zu fünf Sternchen ab. Sein Gesamturteil: Ein Festivalprogramm auf hohem Niveau.

My Name is Salt

Am Anfang ist nur Wüste zu sehen: die ausgetrocknete Bodenkruste eines verlandeten Sees, glatt bis zum Horizont, hie und da vereinzelte Boote auf dem Trockenen. Dann taucht ein Traktor mit Anhänger auf und folgt einem Führer auf einem Motorrad durch diese Ödnis. Eine Familie kehrt zurück zu einer Hütte, gräbt in der Umgebung aus dem Boden Schläuche und eine altertümliche Benzinpumpe aus und häuft ein System von Erdwällen an. Schritt für Schritt verfolgen wir die Entstehung riesiger Salzpfannen, das Präparieren des Bodens durch unzählige Tritte mit den nackten Füßen, das Einbringen von Reisig als Initiator zur Kristallisierung und das ständige Bewegen der Kristalle. Auch anderswo in der Wüste wird gearbeitet und die Ödnis bevölkert sich, aber nur am Horizont. Kommuniziert wird mit Spiegeln und dem Sonnenlicht. Eine der Hütten in der Nachbarschaft ist eine Schule, wo ein Lehrer eine Gruppe von 16 Kindern unterrichtet. Gesprochen wird wenig in diesem Film und einen Kommentar gibt es nicht. Dass die Wüste im Landesinneren der indischen Bundesstaates Gujarat liegt und Little Rann of Kutch heißt, erfährt man aus den Begleitinformationen, ist aber für den Film nicht wichtig. Alles, was man wissen muss, erklärt sich aus den Bildern. So filmisch und bildgewaltig war lange kein Dokumentarfilm mehr.
Am Ende erntet die Familie die Salzkristalle, vergräbt die Gerätschaften wieder im Boden, packt alle Habseligkeiten zusammen und verlässt die Wüste bevor der Regen einsetzt. Und dann schwimmen die Boote wieder.
*****

Awake in a bad Dream

Es geht um Brustkrebs, das ist nach den ersten Mammographie-Aufnahmen klar, mit denen der Film beginnt. Ein Arzt tastet verschiedene Frauen ab und spricht dazu über das, was er erfühlt — und schon nach zwei Minuten ist klar, zu diesem Arzt würde man auch gehen. Dreimal stellt er die Diagnose Brustkrebs und ab da begleiten die Filmemacher die Familien auf dem Weg durch die Krankheit. So intime Bilder und Situationen hat man selten in Dokumentarfilmen gesehen, der Blick ist zurückhaltend, behutsam, aber schonungslos wie die Krankheit selbst.
*****

Divorce Iranian Style

Ein Gerichtssaal in einem iranischen Familiengericht, der Richter kommt und nimmt Platz. In Folge sehen wir verschiedene Ehepaare, die sich scheiden lassen wollen. Für Männer ist das einfacher. Frauen haben nur beschränkte Möglichkeiten und das führt auch zu Versuchen, die Schwierigkeiten zu umgehen. Die Kamera selbst wird für die Protagonisten eher zum Stimulans, teilweise zum Komplizen in den doch sehr persönlichen Fällen — und immer wieder mal wendet sich eine der Parteien direkt zu den Filmemachern und kommentiert, worum es ihr jetzt geht. Wie restriktiv die Situationen für Frauen ist, erfährt man an der gesonderten Eingangspforte für das weibliche Klientel. Die Wächterinnen dort achten auf die Einhaltung der Kleiderordnung und reichen den Frauen Kleenex, um sich den Lippenstift abzuwischen. Auch die Bürokratie baut Hindernisse auf: Nur weil der Archivar die Akte nicht findet und sich auch nicht bemüht, soll die Frau in zehn Tagen wiederkommen. In einzelnen Fällen haben die Parteien die Filmemacher auch nach Hause eingeladen, wo im Familienkreis die Scheidungsproblematik weiter diskutiert wird.
*****

Whispers of the Cities

Ramallah: Der Blick aus dem Fenster, Straßenhändler mit Karren voller Gebäck ziehen vorbei, ein Maler streicht den Pfahl eines Verkehrsschildes, Frauen steigen in ein Taxi, ein Zeitungsverkäufer legt die Zeitungen auf dem Pflaster aus, das israelische Militär verhaftet einen Mann. Bagdad: Eine Baugrube wird ausgehoben, ein Polizist auf der Kreuzung versucht den Verkehr zu regeln, Schießereien, Krankenwagen, alles gefilmt aus dem Fenster oder vom Balkon. Der Filmemacher ist ein Kameramann der zwischen 2003 und 2010 an Filmschulen in Ramallah, Bagdad und Erbil unterrichtete und aus dem Fenster alltägliche Begebenheiten eingefangen hat, teilweise über Jahre hinweg. In Bagdad wird im Park ein Brunnen gebaut und die Kacheln zerfallen schon, bevor er überhaupt in Betrieb genommen wird. Neu gekachelt gammelt er dann wieder vor sich hin, bevor er endlich in Betrieb genommen wird und dann Jungen als Planschbecken dient. Beobachtungen, kein Kommentar, keine Dialoge und nur dreimal sparsam Musik.
*****

Neuland

Die Filmemacherin begleitet eine Integrationsklasse in Basel von der ersten Stunde an über zwei Jahre hinweg. Die 16 Schüler des Herrn Zingg kommen aus den verschiedensten Ländern und müssen jetzt in der Schweiz für ihre Integration diese Klasse besuchen. Hier lernen sie die Schweizer Werte kennen, um sich in der Gesellschaft zurecht zu finden und Lehrer Zingg ist derjenige, der ihnen vermitteln kann, was sie für ihr weiteres Leben in der Schweiz fit macht. Das tut er mit sehr viel Feingefühl und Engagement. Er ist Lehrer durch und durch und hat sich gegen einen Job am Gymnasium und für diese Arbeit entschieden. Es gibt wunderbare Beobachtungen in diesem Film: zwei Jungen sitzen in der Bank, beide haben das gleiche neue Schreibheft vor sich. Der eine hat, wie bei uns üblich, mit seinen Eintragungen von vorne begonnen, der andere hat seinen Text von hinten ins Heft geschrieben. Mit Gesten diskutieren sie darüber, wie es richtig ist. Es ist auch ein Film über einen Lehrer, der seine Schüler wirklich liebt.
****

The Day I will never Forget

Kenia: Somalische Immigranten praktizieren an ihren Töchtern die Beschneidung. Mädchen schreien wie am Spieß. Die Mütter begründen das Ganze mit der lapidaren Feststellung: Das ist unsere Kultur. Dazwischen versucht die Krankenschwester Fardhosa über die medizinischen Gefahren und die psychischen Folgen aufzuklären und scheitert zuweilen an ignoranten Eltern und Ehemännern. Eine Gruppe junger kenianischer Mädchen, die vor der Beschneidung von daheim geflohen sind, klagt vor Gericht und setzt ein Beschneidungsverbot gegen die Eltern durch — und das in einer Gesellschaft, wo Familie, Clan und Dorfgemeinschaft so viel wichtiger sind, als staatliche Autorität.
****

Flowers of Freedom

Eine Bäuerin sammelt Steine auf einer kargen Wiese und im Hintergrund zieht ein LKW nach anderen vor einem Berghang vorbei. Sie sind mit Chemikalien auf dem Weg zur Kumtor-Goldmine in den kirgisischen Bergen. Der Abbau ist begleitet von Umweltzerstörung und Zyanid-Verseuchung. Im Dorf Barskon hat sich eine Umweltorganisation gegründet, die hauptsächlich von Frauen getragen wird, vor allem Erkingül, die unerschrocken vorangeht und es nach dem Umsturz in Kirgistan als Abgeordnete ins Parlament schafft. Die Filmemacherin hat die Frauen über mehrere Jahre begleitet und beobachtet und kommt ihnen bei ihren Alltagsaktivitäten sehr nahe. Zum Schluss verkleiden sich alle mit traditionellen Gewändern und zeigen ihre Reitkünste — überlagert vom tristen Bild ihres mühsamen Widerstands.
****

Thule Tuvalu

Es sind die Sehnsuchtsorte der Kindheit, die der Filmemacher mit Thule (Grönland) und Tuvalu (Pazifik) assoziiert. Zwei Orte, wie sie entgegengesetzter nicht sein können, das Eis in Grönland und die Sonne des Pazifiks. In Grönland begleitet der Filmemacher Jäger bei ihrer archaischen Arbeit mit Boot, Hundeschlitten, Harpune und Gewehr. Im Pazifik beobachtet er einen Familienverband beim Fischen, Bootsbauen und Pflanzen. Diese Geschichten an sich sind schon sehenswert und dann kommt noch ein Zusammenhang hinzu, der beide Welten gleichermaßen bedroht. Während im Norden das Eis abschmilzt, die zugefrorenen Fjorde unpassierbar werden und der Bewegungsraum eingeschränkt wird, steigt im Süden das Wasser, nagt an den kleinen Inseln und überspült mit Salzwasser die Vegetation. Beide Welten verändern sich durch den Klimawandel drastisch und den Inselbewohnern bleibt über kurz oder lang nur die Emigration.
****

Halbmondwahrheiten

Kazim Erdogan ist Psychologe beim Bezirksamt Neukölln. In seiner Freizeit leitet er eine Männer- und Vätergruppe, die mit dem Slogan »Männer gegen Gewalt« immer dann öffentlich auftritt, wenn es Opfer zu beklagen gibt. Bei ihren Treffen versuchen die Mitglieder Ursachen zu erforschen und diskutieren ihre eigene Situation. Der Film folgt einigen der Mitglieder und stellt sie und ihre Geschichte genauer vor. Da ist der alternde Fliesenleger, von dem seine Kinder nichts mehr wissen wollen, der Immobilienmarkler, der seine drei Kinder alleine in Berlin großgezogen hat und da ist der junge Mann, der mit seinem Sohn in Berlin blieb, während seine Frau mit dem jüngeren Bruder zurück in die Türkei ging, und der jetzt keinen Kontakt mehr haben soll. All diese Männer sprechen sehr offen über ihre Sozialisation, ihr Leben und ihre Fehler und man merkt, dass im Integrationsprozess sehr viel zu leisten ist, wenn man so wie Kazim Erdogan Probleme anspricht und Lösungen sucht. Schon wegen missverständlicher Assoziationen hätte dieser Film einen besseren Titel verdient.
****

Light Fly, Fly High

Thulasi ist eine junge indische Frau aus einer niedrigen Kaste, die mit 14 von Zuhause vor der Zwangsverheiratung floh und sich selbst geschworen hat: Ich will niemals meinen Charakter für irgendjemanden ändern. Zehn Jahre intensives Training hat sie in ihre Kariere als Boxerin gesteckt und nun, kurz vor ihrem 25. Geburtstag kann sie in ein Regierungsprogramm übernommen werden, wenn sie einen Wettkampf gewinnt. Das scheitert letztlich an sexuellen Repressalien seitens des Managements des Boxclubs, und als sie den Manager des Clubs anzeigt, um zukünftige Übergriffe zu stoppen, wird dieser zwar verhaftet — aber auch Thulasi vom Boxsport ausgeschlossen. Durch die öffentliche Aufmerksamkeit bekommt sie eine Stelle als Trainerin in einem Fitnesscenter, die ihr ein unabhängiges Leben ermöglicht. Die beiden norwegischen Filmemacherinnen erreichen zuweilen so intensive Einblicke in die Situation des Boxclubs, die Beziehung der Mädchen untereinander und den Alltag der Pflegefamilie, dass man sich in einem Spielfilm wähnt, in dem Darsteller vor die Kamera agieren.
****

Dance of Outlaws

Hino, aus einem Dorf in Marokko, wurde mit 15 vergewaltigt und von zuhause weggejagt. Die Mutter hatte sie zu einem Nachbarn geschickt. Sie versucht mit Gelegenheitsjobs als Hochzeitstänzerin zu überleben. Der Filmemacher begleitet sie zwei Jahre auf ihrem Weg, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen und dieser Weg führt durch Höhen und Tiefen, die teilweise kaum erträglich sind. Bei allem Chaos wird klar, wie schwer die Situation für eine selbständige Frau in der marokkanischen Gesellschaft ist. Die Eltern enthalten ihr die Geburtsurkunde vor, die sie unbedingt braucht, um einen Personalausweis zu bekommen. Das Kind musste sie nach der Geburt in Pflege geben und die Pflegemutter will es nur herausrücken, wenn sie das Geld dafür bezahlt. Bei aller Interaktion kommt die Kamera den agierenden Personen unheimlich nah, so als wäre sie überhaupt nicht mehr wahrgenommen worden.
****

Nowhere to call home

Nachdem Zamtas Ehemann gestorben ist und die Schwiegereltern sie zwangsweise mit dem Schwager verheiraten wollen, geht Zamta mit ihrem kleinen Sohn nach Peking und schlägt sich als Straßenhändlerin durch, was offiziell in vielen Bereichen der Stadt verboten ist. Fünfmal muss sie in einem Jahr ihre kargen Zimmer räumen, auch weil Tibeter in Peking nicht gern gesehen sind. Durch die Bekanntschaft zur amerikanischen Radioreporterin Joce gewinnt sie Lebensmut zurück und bekommt Unterstützung, als sie mit dem Sohn in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Für alle Tibet-Touristen ist dieser Film ein unbedingtes Muss, vor allem weil klar wird, welch reaktionären und frauenfeindlichen Abgründe sich hinter der pittoresken Dorfoberfläche auftun. Und wie Zamta so treffend sagt: »Wenn die Kamera dabei ist, dann lächeln sie alle.«
****

See no Evil

Die drei Primaten Cheetah, Kanzi und Knuckles sind als Versuchs-, Forschungs- und Showtiere in die Tage gekommen. Knuckles hat Beschleunigungstest überlebt, und lebt nun als Krüppel und Freigänger in einem Tierpark. Kanzi, ein Bonobo, hat mehr als 200 Wörter gelernt und kann per Bildtafel damit kommunizieren. Cheeta soll der Schimpanse aus den Johnny Weissmüller Tarzan Filmen sein und lebt mit dem Neffen des Trainers in einem extra für ihn errichteten Altenheim. Jedes Jahr im April feiert man Geburtstag. Wenn man den drei Individuen so konzentriert zuschaut, dann stellt sich die Frage, ob unsere ethische und juristische Einstellung zu Tieren noch zeitgemäß ist.
****

Amma und Appa

Die Filmemacherin aus Bayern hat sich in einen Kunststudenten aus Indien verliebt. In ihrer Ich-Erzählung fahren sie gemeinsam zu den Eltern nach Indien. Als Zuschauer erlebt man den Zusammenprall der Kulturen und bekommt auch mit, weshalb die bayerischen Eltern die Multikulti-Ehe ganz locker sehen, während sie für die indischen Eltern sehr problematisch ist: Es geht da auch um die Sicherheit der eigenen Existenz. In Indien sorgen üblicherweise Sohn und Schwiegertochter für die alten Eltern. Ihren eigenen Blick bringt die Filmemacherin mit der Super-8-Kamera der Eltern in das Projekt ein.
****

The special need

Der 28jährige Enea arbeitet in Norditalien in einer Weberei, ist als Autist behindert aber weitgehend selbstständig. Seine Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung und auch nach Sex blieben bisher unerfüllt. Immer wieder spricht er Frauen an, versucht Kontakt herzustellen, aber weil er den üblichen Kommunikationskodex nicht beherrscht, haben seine Annäherungsversuche keinen Erfolg. Seine zwei Freunde Alex und Carlos nehmen sein Bedürfnis ernst und begeben sich mit ihm in einem VW Bus auf eine Reise durch Italien, Österreich und Deutschland. Im Wendland werden sie schließlich in einer therapeutischen Einrichtung fündig.
****

Nirgendland

Die Kamera fährt in einer Vorstadtsiedlung langsam auf das Tor eines allein stehenden Hauses zu, unterbrochen durch den Tagebucheintrag der 20jährigen Sabine, die sich durch eine Überdosis Insulin das Leben nahm. Und dann erzählt die Mutter, wie es dazu kam. Sie selbst war Missbrauchsopfer des eigenen Vaters und hat die Erlebnisse verdrängt. Und wie um sich selber zu erinnern oder zu bestätigen, hat sie die eigene Tochter in die Obhut der Großeltern gegeben und eine Wiederholung provoziert. Und weil in der Familie verdrängt und verschwiegen wird und die Opfer selbst es nicht wahrhaben wollen, stürzt die Tochter erst in Drogenkonsum und Prostitution ab, bevor sie sich wehrt, vor Gericht zieht und dann daran zerbricht. Zwischen den Erzählungen der Mutter und Zitaten aus den Prozessakten, unterlegt mit stilisierten Raumbildern, zeichnet sich eine Missbrauchsgeschichte ab.
****

Hidden Faces

Die junge Ägypterin Safaa Fathay fährt von ihrem Exil aus Paris zurück in die Heimat nach Kairo, um die feministische Ärztin und Autorin Nawal El Saadawi zu interviewen. Es geht um die Rolle der Frau in der ägyptischen Gesellschaft. Auf dem Land besucht Safaa die Mutter, die Verwandtschaft und Freunde, um dem konservativen Frauenbild nachzuspüren und Fragen zu klären, warum sich Frauen verschleiern und warum sie beschnitten werden.
***

Cantos

Der Film folgt dem Leben und Alltag vier unterschiedlicher Menschen in Kuba. Da ist der alte Mann, der versucht, für den krebskranken Freund Schmerzmittel aufzutreiben. Der studierte Bauernsohn, der die Farm der Eltern bewirtschaftet und von Reisen in die Ferne träumt, die er nie machen wird. Die Bloggerin, die mit ihrer Tochter allein lebt, gegen Unrecht anschreibt und um den Internet-Zugang fürchtet. Der Schuljunge, der Tauben züchtet und sie für Basketballschuhe eintauschen will. Diese vier Lebensstränge sind miteinander verwoben und zeigen ganz unspektakulär das Leben in einem unfreien Land.
***

Leaving Greece

Die drei minderjährigen afghanischen Flüchtlinge Hosseini, Reza und Kaka sind in Griechenland gestrandet und kommen nicht mehr weiter. Offiziell dürfen sie aus Griechenland nicht ausreise, Fluchtversuche werden immer wieder vereitelt und mit Schlägen und Gewalt bestraft. In Patras versuchen viele, auf einen LKW auf zu springen, um als blinde Passagiere mit der Fähre nach Italien zu kommen. Einige haben diese Versuche in den letzten Jahren mit dem Leben bezahlt. Hosseini verliebt sich in der Flüchtlingsunterkunft in Patras in die Berlinerin Anna, die dort einen Workshop gibt und kommt so schließlich als Ehemann nach Deutschland. Der Film folgt dem Schicksal der drei.
***

Three letters vom China

Drei Episoden aus verschiedenen Regionen Chinas geben Einblick in unterschiedliche soziale Problematiken. Wei Guancai ist mit 61 Jahren der letzte Bauer in einem Dorf, das alle anderen wegen Mangels an Wasser verlassen haben. Sein Sohn Wei Jihua ist in eine 600 km entfernte Stadt gezogen und arbeitet als Schaufelladerfahrer im Kohleabbau. Er möchte gern mit seiner Familie zu den Eltern zurück, während seine Frau sich in der Stadt niederlassen möchte, weil sie auf dem Land keine Zukunft sieht. In einem Dorf in Südchina leben der Sohn der ehemaligen Grundeigentümers und der Sekretär der Kommunistischen Partei beide als Rentner in der Dorfgemeinschaft — und es gibt da noch einiges an Unrecht und Verbrechen aufzuarbeiten, die in Folge der Kulturrevolution begangen wurden. Chaomei ist 19, will eigentlich lieber ein Junge sein. Ihre Eltern sind Fischer und haben sie als kleines Kind ausgesetzt in einem Baum gefunden, konnten dann aber kein weiteres Kind haben, wegen der 1-Kind-Politik. Chaomei ist auf der Suche nach ihrer Identität, will lieber arbeiten und ihr eigener Boss sein, als zu studieren.
***

Gaea Girls

Chigusa Nagayo ist ein weiblicher Wrestling-Star und unterhält mit den Gaea Girls in einer schlichten Gewerbehalle im ländlichen Japan eine Ausbildungsstätte für den Nachwuchs. Hierhin kommen junge japanische Frauen, um Wrestling-Profis zu werden, so auch Takeuchi. Obwohl Wrestling ein choreografierter Sport mit vielen Show-Elementen ist, ist die Verletzungsgefahr sehr hoch und das Training anspruchsvoll. Takeuchi muss das schmerzhaft erfahren, will aber um jeden Preis ihr Debut absolvieren. Eine interessante Beobachtung über das Meister-Schüler-Verhältnis, über Durchsetzungswillen und Unterwerfung — und ein Blick in eine völlig fremde Welt.
***

Generation Waldsterben

In diesem Film fungiert der Macher als Ich-Erzähler aus dem Off und kreiert für seinen Jahrgang 1962 eine neue Generation, die genau da volljährig wurde, als der Begriff Waldsterben in der öffentlichen Diskussion war. Der persönliche Lebenslauf, unterfüttert mit Super-8-Filmen des Vaters und Archivmaterial über wichtige Zeitströmungen, wird geschickt mit der Thematik des Waldes verbunden, der in der deutschen Kulturgeschichte schon immer eine besondere Rolle spielt. Was lehrt uns der Baum und wie tief kann man in den Wald hineingehen, sind zwei Fragen, die an den Zuschauer gestellt werden. Der Vater, ein Möbelschreiner, fertigt die häusliche Einrichtung und als die dann nachdunkelt, ist sie genau so braun wie die Zeit und die Cordhosen der frühen 60er Jahre. Auch das Super-8-Material ist nachgebräunt und in der Schule singt man deutsches Liedgut: Schwarzbraun ist die Haselnuss. Der Vater stirbt schließlich an Krebs, woran die Arbeit mit Holzschutzmitteln vielleicht die Ursache war. Das Waldsterben ist dann doch nicht eingetreten, weil schnell und heftig reagiert wurde, aber die nächsten Herausforderungen sind komplexer und schwieriger zu handhaben.
***

Ein Apartment in Berlin

Der Film ist eine Versuchsanordnung, ein interessantes Experiment, das die Filmemacherin initiiert. Sie mietet im Bezirk Prenzlauer Berg in Berlin eine Wohnung, in der bis in den Krieg hinein das jüdische Ehepaar Adler gewohnt hatte, bevor es deportiert wurden. Drei junge Israelis Yaez, Yoav und Eyal ziehen ein und rekonstruieren zusammen mit der Filmemacherin das jüdische Leben von einst. Bei der Vermögensverwaltungsstelle wurde der Besitz deportierter jüdischer Bürger penibel erfasst. Diese Akten dienen jetzt der Rekonstruktion und auf Flohmärkten kauft man die entsprechenden Gegenstände ein. Immer wieder gibt es Diskussionen über Befindlichkeiten und über das Rollenverständnis von Opfer und Täter. Es ist interessant, wie selbstbewusst und entspannt die Enkelgeneration der Holocaust-Überlebenden mit dem Thema umgeht.
***

Anderson

Sascha Anderson war der umtriebige Star der alternativen Kulturszene vom Prenzlauer Berg in der DDR und hat neben vielen eigenen literarischen Werken durch sein umfangreiches Netzwerk andere gefördert und angetrieben. 1991 wurde er von Wolf Biermann als Stasispitzel enttarnt. Nach anfänglichem Leugnen seiner Spitzelaktivitäten hat Anderson sein Dasein als »inoffizieller Mitarbeiter« eingestanden und sich dann gerechtfertigt. Die Autorin holt ihn nun gut 20 Jahre später ins Studio, wo die Filmemacher die Wohnküche von Ekkehard Maaß detailgetreu nachgebaut haben. Es ist die Küche, wo viele Treffen der Kulturszene am Prenzlauer Berg stattfanden. Im Film versucht er sein Handeln von früher zu erklären, wobei das Warum schwer nachvollziehbar ist. Ähnlich wie bei Betrügern, scheint ihm damals der Realitätsbezug abhanden gekommen zu sein. Interessant ist die Frage nach den Opfern, denn direkte Opfer seiner Aktionen gab es wohl nicht, eher Nutznießer, die indirekt von Andersons Berichterstattung profitiert haben, weil sie aufgrund seiner Berichte als harmlos eingestuft und toleriert wurden.
***

Fuoristrada – Off Road

Beatrice ist eine hemdsärmelige Automechanikerin und Off-Road-Fahrerin in der römischen Vorstadt, die mit langen Fingernägeln an Motoren schraubt und in High Heels die Werkstatt verlässt. Früher war sie Pino. Als Marianna aus Rumänien kam, um die Mutter von Beatrice/Pino zu pflegen, da war es zwischen Marianna und Beatrice/Pino Liebe auf den ersten Blick. Jetzt leben sie mit der Mutter und Mariannas Sohn als Familie zusammen. Die Hochzeit kann der konservative Standesbeamte nicht verhindern, da Beatrice die kleine Transsexuellen-Lösung wählte und offiziell immer noch ein Mann ist. Amüsante gradlinige Familiengeschichte der anderen Art aus Italien.
***

Walaa

Ihre Liebe gilt dem Fußball – andere Dinge interessieren sie nur zweitrangig. Deshalb ist Walaa Hussein eine der besten Spielerinnen in Israel und Palästina. Als Araberin spielt sie in der israelischen Liga und gleichzeitig in der palästinensischen Nationalmannschaft. Eigentlich ist es ihr egal, wo sie spielt, Hauptsache der Fußball ist anspruchsvoll. Mit ihrem alten roten Auto ist sie immer wieder unterwegs, zwischen Wohnung und den verschiedenen Trainingsorten, oft zwei Stunden und manchmal auch länger, je nachdem, wie zügig die Abfertigung an den Checkpoints verläuft. Spannend wird der Film, als es um die unterschiedlichen Auffassungen der Familie zu ihrem sportlichen Engagement geht. Da ist der modern denkende Vater, der das Leben seiner Tochter in allem gutheißt, der Bruder, der nicht einverstanden ist und Verwandte, die auch nicht gerade vor Begeisterung sprühen. Der Trainer verliert die meisten seiner Spielerinnen im Alter von 22 bis 23 Jahren, wenn die jungen Frauen heiraten und die Ehemänner dem Fußballspiel ein Ende setzen. Ab einem gewissen Alter wird Fußballspielen für Frauen im allgemeinen nicht mehr akzeptiert. Walaa wird es zu eng in ihrer Heimat und sie liebäugelt mit einem Engagement im Ausland.
***

Sieniawka

Der Film bricht mit dem Bild einer Häuserzeile über den Zuschauer herein, dann kommen zwei Männer mit einer Handkarre und laden eine in ein Tuch eingeschlagene menschliche Gestalt ab. Ein Kosmonaut läuft auf einem Versorgungsrohr, ein Mann mit Zwangsjacke versucht aus einem Abflusskanal zu trinken. Dann schauen wir durch eine Durchreiche in einen leeren Anstalts- Speisesaal, der sich langsam mit Männern füllt. Ein Mann spielt Klavier und die Kamera schwenkt ganze neun Minuten lang langsam über verschiedene Bewohner dieser Anstalt für geistig Behinderte. Sieniawka liegt jenseits der Neiße gegenüber von Zittau im polnischen Grenzgebiet, dem ehemaligen Niederschlesien. Ganz entspannt kann man diesen Beobachtungen zuschauen, man muss kaum Untertitel lesen und versteht doch alles.
Eigentlich war der Film mit seinem Pro- und Epilog als Spielfilm angelegt und sollte zwischen Vergangenem, dem Jetzt und dem Zukünftigen eine Brücke schlagen. Es gibt Filme, denen kann der Irrglaube ihrer Macher nichts anhaben und sie wirken trotz theoretisierender Inszenierungen durch die Stärke der dokumentarischen Bilder.
***

Unplugged

Vera geht durch lange Gänge eines Gebäudes des Kulturministeriums in Belgrad. Bands verschiedener Musikrichtungen üben in ihren Probenräumen. Schließlich gelangt Vera in ein Studio, wo sie ihre eigene Musik macht. Alles, was sie dazu braucht, ist ein Blatt von einem Laubbaum. Was so einfach aussieht, erfordert eine Menge Übung, eigentlich lebenslanges Training. Das erfährt der Instrumentenbauer Josip, der das Blattspielen auch erlernen will und deshalb andere befragt und mit seinen Messgeräten die Möglichkeiten erforscht. Im Supermarkt sucht er nach Folienpackungen, die das Blatt ersetzen könnten, denn nicht alle Blätter sind geeignet. Petar spielt schon lange auf Blättern, beklagt aber, dass gute Blätter immer seltener zu finden sind. Unplugged ist kein konventioneller Musikfilm, sondern eher eine Feldforschung nach möglichen Klängen.
***

Asier ETA Biok

Asier und Aitor saßen zusammen auf der Schulbank in Pamplona im Baskenland. Während Aitor Schauspieler wurde, hat sich Asier politisch engagiert, wurde Mitglied der baskischen Separatisten- und Terrororganisation ETA wofür er acht Jahre im Gefängnis in Frankreich er landete. Zur Freilassung des Freundes kauft sich Aitor eine Kamera und stellt Fragen über die ETA. Weil der Filmemacher Schauspieler ist, gelingen all seine Kommentare, die den Film vorantreiben und zusammenhalten, auf amüsante und unterhaltsame Weise. Mit der Art, wie der Filmemacher die eigene Person ins Spiel bringt, erreicht der Film eine neue, einmalige Qualität.
***

Striplive

Am Strand von Gaza-Stadt sind hunderte von Manta-Rochen gestrandet und werden nach Sonnenaufgang von der herbeigeeilten Menschenmenge zerteilt und abtransportiert. Der Film erzählt einen Tag im Gaza-Streifen und beobachtet sechs verschiedene Personen immer wieder: einen Bauern im Niemandsland zur israelischen Grenze, eine TV-Reporterin, einen Fotografen, der 2008 seine Beine bei den Bombenangriffen verlor, die jugendliche Parkourgruppe Gaza Parkour Team, einen Sänger und einen Fußballtrainer. Dazwischen gibt es immer wieder Alltagsszenen und Tiere aus dem Gaza-Zoo. Wohltuend wenig Text und Musik.
***

Göttliche Lage

Auf dem Gelände des ehemaligen Höchst-Stahlwerks in Dortmund-Hörde entstehen ein großer See, Stadtvillen und Wohnungen mit gehobenem Niveau. Die Langzeitbeobachtung begleitet sowohl die Projektentwickler, wie auch die Bewohner des Umfelds während des Bauprojektes. Aus der ehemaligen Arbeiterwohngebiet ist jetzt ein Quartier mit hoher Arbeitslosigkeit geworden. Mitten drin sollen Wohlhabende in Hanglage mit Blick auf den See wohnen.
***

Intensivstation

Die Intensivstation der Berliner Klinik Charitè: Der Film beobachtet den Alltag von Ärzten, Pflegern und Patienten und stellt immer wieder die Frage, wie weit Medizin und lebenserhaltende Maßnahmen gehen dürfen, wenn der Erfolg mehr als fragwürdig ist. Klare Entscheidungen scheitern oft an der Ungewissheit, was der Patient will. Höchste Zeit, über eine Patientenverfügung nachzudenken. Die Schicksale der Protagonisten liefern hier neue Einsichten. Einer der wenigen Filme, die für das eigene Leben handfeste Erkenntnisse liefern.
***

Das große Museum

Ein Mann in Latzhose betritt einen großen historischen Saal mit Deckengemälde, bleibt in der Mitte stehen, holt mit einer Spitzhacke aus und schlägt sie in den Boden. Im kunsthistorischen Museum in Wien wird umgebaut. Der Film schaut hinter die Kulissen dieser gigantischen Institution und entdeckt allerlei Kuriositäten. In den Teambesprechungen wird deutlich, dass auch solche Einrichtungen heute unter den Aspekten des Wettbewerbs gesehen und geführt werden.
***

Grey City

São Paulo ist berühmt für seine Graffitis, und während eine Gruppe von prominenten Künstlern ein gesponsertes Großkunstwerk herstellt, fährt eine städtische Putzkolonne durch die Straßen, entscheidet über den Daumen gepeilt, ob ein Graffiti Kunst ist oder nicht und löscht alles andere durch Überspritzen mit grauer Farbe.
**

Velvet Terrorist

Wo sind die Widerstandskämpfer der kommunistischen Ära aus den 80er-Jahren in der Tschechoslowakei geblieben? Der Film stellt mit Vladimír, Fero und Stano drei dieser Widerstandskämpfer vor, die als junge Männer wenig erfolgreich das kommunistische Regime bekämpft haben und dafür in den Knast gingen. Fero erzählt, wie er sich seine Verhaftung vorstellte, das Klingeln an der Tür, den Sprung aus dem Fenster, eine Aktion, die er für die Kamera nachstellt. Dann wurde er aber ganz einfach auf der Straße verhaftet. Stano erkärt einem Malerkollegen beim Streichen einer Halle, wie es im Knast war. Er trägt die Umrisse der Zelle mit der Farbwalze auf dem Boden auf und bewegt sich dann wie eine Schachfigur in diesem Gefängnis. Vladimir veranstaltet unter jungen Frauen ein Casting und bildet dann eine von ihnen in subversiven Fertigkeiten aus, für den Eventualfall. Bei allen drei Protagonisten bleibt unklar, wo sie heute politisch anzusiedeln sind. Velvet Terrorist ist ein Gemeinschaftswerk dreier Regisseure.
**

Ne Me Quitte Pas — Verlass mich nicht

Am Anfang findet eine Trennung statt: Die Frau verlässt Marcel mit den drei Kindern. Mit seinem älteren Freund Bob kommt Marcel (52 Jahre) zurück in das leergeräumte Haus in einem belgischen Dorf und betrinkt sich erst einmal bis zum sprichwörtlichen Umfallen, das die Kamera erbarmungslos registriert, auch als schon keine Mehrinformation mehr zu erwarten ist. Marcel und Bob verbringen viel Zeit miteinander und diese Männerfreundschaft ist das wichtige Thema des Films. Weil er sein Leben ändern will, begibt sich Marcel in die Klinik und unterzieht sich einer Entzugstherapie.
**

Die Wirklichkeit kommt

Auf dem Teufelsberg über Berlin unter den Ruinen der amerikanischen Überwachungsanlagen begegnen wir Harald, der zu den sogenannten Mind Controlled Victims gehört, Menschen die davon überzeugt sind, dass man ihnen einen Chip eingepflanzt hat, oder dass man sie mittels Radarstrahlen überwacht und zu steuern versucht. Man kann diese Überzeugung als Paranoia abtun, gleichwohl gibt es auf der Gegenseite Bestrebungen, diese Vorstellung Realität werden zu lassen und Technologien zu entwickeln und zu realisieren, mit denen genau diese Kontrolle über das Bewusstsein möglich wird. Der Film beleuchtet zwischen drei Opfern und vielen Experten die Bandbreite des Überwachungsthemas. Während der Dreharbeiten wurde der Filmemacher durch die Snowdon-Enthüllungen überrollt, die nun das vielleicht anfangs skurrile Unterfangen in einen realeren Zusammenhang stellen.
**

Sleepless in NY

Alley, Michael und Rosey verbringen mehr oder weniger schlaflose Nächte in New York, weil sie von ihren Liebespartnern verlassen worden sind. In der Regel ist das Gehirn verlassener Partner in der Zeit nach der Trennung zu 58 % mit den Gedanken an den anderen ausgelastet, erklärt der Film. Einfacher als im Fall von Verliebtheit lässt sich die Gehirnaktivität bei Verlassenen messen und untersuchen, denn neben dem konkreten Trennungsdatum sind sie offen für Trost und Zuspruch und erzählen ihre Geschichte gerne. Die Anthropologin Helen Fisher hat deshalb Flyer in NY ausgehängt und interviewt Betroffene, um durch Magnetresonanzmessungen der Hirnarbeit im Fall von Liebe auf die Spur zu kommen. Am Schluss erfahren wir außer den persönlichen Änderungen im Alltag der Betroffenen und einer Menge vergossener Tränen nicht wirklich Neues über die Liebe, nur dass sie unser Gehirn sehr ausgiebig beschäftigt. Vom Gedächtnisforscher Eric Kandel ist das weit entfernt.
**

Auf der Suche nach Heilern oder ich bin ein Hypochonder

Der Filmemacher muss nachts mehrmals auf Toilette und hat auch Schmerzen, die die schlimmsten Befürchtungen nach sich ziehen. Deshalb begibt er sich zu den unterschiedlichsten Heilern und erfährt viel Aufmerksamkeit, diverse Methoden und absurde Theorien. Nach der Odyssee durch die Heiler-Landschaft sind die Symptome geblieben, aber er hat interessante Menschen kennengelernt und dank einer Ernährungsberatung 15 kg an Gewicht abgenommen. Ein amüsanter Film, dem auch die wenig ambitionierte Bildgestaltung letztlich nichts anhaben kann.
**

Land in Sicht

Der Film beobachtet drei Asylbewerber im brandenburgischen Bad Belzig. Abdul (Jemen) war Captain in der Armee und der Sohn eines Scheichs, Farid kommt aus dem Iran und hat Bodybuilding gemacht, Brian stammt aus Kamerun. Die Filmemacher begleiten die drei und ihre Betreuer bei einer Reihe von Integrationsversuchen. Eigentlich scheitert die Jobsuche schon an den mangelnden deutschen Sprachkenntnissen, was aber Abdul nicht als Problem sieht. Er möchte gerne in der Sicherheitsbranche arbeiten und meint, wenn er nur drei Tage zusieht, kann er jeden Job machen. Später will er ein Reisebüro für Fahrten nach Medina aufmachen, ohne Businessplan und ohne eine wirkliche Ahnung von der Branche. Brian hat als Kameruner keine wirkliche Chance auf Anerkennung. Er soll für eine obskure Firma Finanzdienstleistungen verkaufen, obwohl zumindest sein Deutsch für diese Tätigkeit nicht ausreicht.
**

Ek. Afrikaner

Innenansichten einer Burenfamilie in Südafrika. Die Filmemacherin hat die letzten neun Jahre ihrer Familie auf dem Land in Südafrika dokumentiert. 20 Jahre nach dem offiziellen Ende der Apartheid hat sich in den ländlichen Strukturen nicht viel geändert. Noch immer sind die Weißen die Besitzer und die Schwarzen die Arbeiter. Angst und Misstrauen regieren den Alltag. Einziger Lichtblick ist die junge Nichte, die ohne Berührungsangst den Schwarzen auf Augenhöhe begegnet und die Hoffnung gibt, dass sich in Zukunft etwas ändern kann.
**

35 Cows and a Kalashnikov

35 Kühe und eine Kalaschnikow sind beim Stamm der Surma in Äthiopien der Preis für eine Frau. Zu Stockkämpfen malen die nackten Männer ihre Körper kunstvoll mit Farben an. Die Sapeur (Dandys) in der kongolesischen Hauptstadt Brazzaville wollen mit ihrem eleganten und individuellen Kleidungsstil gegen die Tristesse ihrer Umgebung ankämpfen. In Kinshasa treten Voodoo-Ringer und normale Kämpfer zum Wrestling gegeneinander an, angeführt vom Albino Mwinga Texas. Die drei Episoden mit farbenfrohen Bildern versuchen ein anderes Afrika-Bild zu zeigen, aber leider gerät das Unterfangen durch permanente Musikberieselung zu einem Megavideoclip, an dessen erstem Teil vor allem Leni Riefenstahl besondere Freude gehabt hätte.
*

7 Tage im September

Ein Film für elf Lawinentote. Der Manaslu ist ein 8.163 m hoher Berg in Nepal und bietet die längste Skiabfahrt vom Gipfel bis ins Basislager. Der Extremskifahrer Benedikt Böhm aus München will mit sechs Kollegen den Gipfel und die Abfahrt innerhalb von 24 Stunden bewältigen. Nach einem abgebrochenem Versuch 2007 wird das Wagnis 2012 wiederholt und weil China in diesem Jahr Tibet gesperrt hat, hangelt sich im September eine Schlange von Bergsteigern an den Seilen entlang dem Gipfel entgegen. Bevor der Rekordversuch gelingt, gibt es ein dramaturgisch verstärkendes Lawinenunglück und die moralische Frage: Darf man weitermachen? Dieser Film ist in wichtigen Teilen mit einer Go Pro gedreht, und die Protagonisten sprechen wie Tagesschaureporter in die Kamera und erläutern die eigenen Befindlichkeiten angesichts der anstehenden Herausforderungen. Berichtet wird nur über das Abenteuer an sich — die Frage, wo jenseits des Adrenalinkicks und der schönen Bergbilder der Mehrwert der Aktion liegt, bleibt ungeklärt.
*

Zurück in den Süden

Der kongolesische Medizinstudent Fiston Massamba sitzt auf seiner Flucht nach Europa in Marokko fest und beschließt, über den Süden durch Mauretanien und den Senegal doch noch sein Ziel zu erreichen. Aus Marokko darf er nicht ausreisen, deshalb organisiert er sich einen Pass und nimmt eine fremde Identität an. Mit dem Rollkoffer macht er sich auf den Weg über zwei Grenzen und seine Reise endet erst einmal nach mehreren tausend Kilometern im Senegal, wobei uns die Macher verschweigen, wie sie mit dem eigenen Gepäck schritthalten können. Überhaupt weiß man nicht, was Fiston letztlich antreibt und warum er auf der Flucht ist. Im Telefonat — Telefon funktioniert immer — mit seinem Vater erfährt er, dass alle seine Mitstudenten schon längst Ärzte sind. Wie er schließlich nach Europa kommt, ist ausgeblendet. Am Schluss steht er in Grenoble und sagt genau das, was man schon vorher befürchtet: Es ist kalt hier. Es scheint, als sei dem Filmemacher unter dem Dreh sein Projekt entglitten.

Zahlen Dokfest 2014
  • 137 Filme aus
  • 41 Ländern, davon
  • 13 Reihen mit
  • 10 Wettbewerben und 
  • 35.000 Euro Preisgeld
Tendenzen, Kommentare

Aus den beschriebenen Filmen, die natürlich nur einen Ausschnitt des gesamten Programms des Dokumentarfilmfestivals darstellen, lassen sich einige Schlüsse ziehen:

Ist das noch real?
Drehbuchwerkstätten, Dok-Labs, Dramaturgiekurse und andere Optimierungsbestrebungen zeigen Wirkung: Immer mehr Dokumentarfilme sind dramaturgisch so ausgefeilt, dass man unterbewusst daran zweifelt, ob all diese Themen, Konflikte und Aktionen so in der Wirklichkeit stattgefunden haben und hätten — oder ob sie nur deshalb stattfanden, weil eine Kamera dabei war und/oder ein Filmemacher dies für den Erzählfluss forderte. Auch die Protagonisten sind durch den Medienkonsum inzwischen so geschult, dass auch sie dazu neigen können, nicht mehr ihren Alltag zu leben, sondern den Alltag zu spielen — und das ganz offenbar überall auf der Welt. Allgemeiner formuliert: Wenn das Subjekt einer Messung die Messmethode kennt, dann ändern sich die Messergebnisse zu Gunsten des Subjektes. (Dance of Outlaws, Light Fly – Fly High)

Warum immer auf die Schwachen?
Anders als es in vielen Abspännen von Spielfilmen formuliert ist, muss man bei den Filmen dieses Festivals sagen: Es kamen eine Menge Tiere ums Leben. Schafe, Robben, Wale, Rochen andere Fische und Hühner. Noch nie war die Schlachtquote so hoch, wie in der diesjährigen Auswahl.

Emanzipation, ist das noch ein Thema?
Das Thema Frauenemanzipation geht in unseren Breiten in die dritte Generation. Viele Länder, in denen die Filme dieses Festivals spielen, stehen da noch ganz am Anfang. Der Verdienst der speziellen Filme ist es dann, die Problematik unter einer scheinbar gut funktionierenden gesellschaftlichen Oberfläche hervor zu zerren.

Warum immer drei?
Der Zuschauer kann sicher weiter als bis drei zählen, aber immer wieder greifen Filme bei der Auswahl der Protagonisten auf die magische Zahl drei zurück. Zehn der hier vorgestellten Filme nehmen sich ein Thema und teilen es auf drei Protagonisten auf: Sso kommt man sicher über 90 Minuten Programmzeit. Manchen Machern glücken damit spannende Geschichten, andere bleiben in der konventionellen Form stecken.

Wer, außer mir, kann das erzählen?

Die Ich-Erzähler nehmen zu. Das mag eine Folge der permanenten Selbstdarstellung in allen möglichen Netzwerken sein, die immer mehr zu einem Markt und Aufmerksamkeitsfaktor wird. Diesmal hat das Festival den Ich-Erzählern eine ganze Reihe gewidmet. Zwei dieser Ich-Erzähler Filme sind Rückblicke auf die eigene Entwicklung und die durchlebte Zeit: Generation Waldsterben, Asier Eta Biok.

Wie sind die Bilder?
Bis auf wenige Ausnahmen ist die Bildgestaltung auf einem hohen Niveau. Es werden hauptsächlich Kameras mit großem Sensor verwendet. Die Schärfe spielt eine untergeordnete Rolle und viele Einstellungen sind akzeptabel, auch wenn die Protagonisten nur zeitweise scharf im Bild sind. Aufgeregte Bildtricks und Spielereien habe ich nicht gesehen. Super-8-Material gibt es in einem Film, ansonsten ist analoges Filmmaterial nur eine Randerscheinung.

Wie reagieren die?
Zwei der hier vorgestellten Filme arbeiten mit einer Versuchsanordnungen, was eine interessante Form ist. Die Filmemacher bauen eine Situation auf und lassen dann die Protagonisten wie Labormäuse darin agieren: Apartment in Berlin, Anderson.

Warum jetzt Musik?
Dass Musik ein willkommenes Instrument ist, den Rezipienten emotional einzustimmen und führend zu begleiten, hat sich bei den TV-Movie-Machern herumgesprochen und schwappt, wahrscheinlich wenn die gleichen Produzenten im Dok-Filmbereich tätig werden, jetzt auf bestimmte Dokumentarfilme über. Dann wird der Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute zugedröhnt. Ich kann nur allen Zuschauern raten: Seid misstrauisch, wenn zu viel Musik im Film ist!

Und wer etwas über Berufe erfahren will, ist bei diesen Filmen gut beraten: Ein guter Arzt (Awake from a bad Dream), ein guter Psychologe (Halbmondwahrheiten) und ein guter Lehrer (Neuland).

Empfehlungen der Redaktion:

06.05.2013 – Dokfest München 2013: Vorschau und Empfehlungen
03.05.2012 – Filmtipps fürs Dokumentarfilmfestival München
04.05.2011 – Filmtipps fürs Dokfest München