Kommentar, Top-Story: 19.02.2004

Bärentanz

Ein Kommentar zum größten deutschen Filmfestival, der Berlinale – ganz ohne inhaltlich auf die Filme ein zu gehen.

Die Berlinale ist das größte und wichtigste Filmfestival in Deutschland. Kein Wunder also, dass in allen Medien darüber berichtet wird. Sogar auf die Titelseiten der Boulevard-Blätter haben es die Berliner Filmfestspiele in diesem Jahr geschafft, wenn auch nur indirekt, mittels der Porno-Vergangenheit einer neu entdeckten Schauspielerin, die im Siegerbeitrag »Gegen die Wand« die weibliche Hauptrolle spielte. Dieser Film wiederum ist seit 18 Jahren der erste deutsche Film, der mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Der erste seit »Stammheim«.

Was zeigte die Berlinale? Ein vielschichtiges Bild, auch abseits der Leinwand. Das ist zuerst einmal der unübersehbare, große Minderwertigkeitskomplex, mit dem offenbar alles behaftet ist, was mit dem deutschen Film zu tun hat. Man gibt sich in dieser Branche zwar gern großspurig, kippt aber sofort ins Jammern um, wenn sich ein Anlass dafür bietet. Schon im Vorfeld der Berlinale war das schön zu beobachten: Das Fernbleiben amerikanischer Stars wurde umfänglich beweint, um so mehr wurde dann über diejenigen gejubelt, die sich dann doch erbarmten und mit ein paar Preisen im Vorfeld oder der Aussicht darauf nach Europa gelockt werden konnten. Statt Selbstbewusstsein zu zeigen und das Festival auf andere Themen zu fokussieren, klassische Unterwerfungsgesten mit starrem Blick auf den Boulevard.

Ist ein Festival nur dann ein gutes Festival, wenn auch viele Stars da sind? Worum geht es denn eigentlich bei der Berlinale? Kann man nicht leicht nachempfinden oder sich zumindest selbst erklären, weshalb die Reichen und Schönen lieber später im Jahr ins warme, südliche Cannes reisen, als im kalten, unwirtlichen Februar nach Berlin? Kann es da sinnvoll sein, hinter einem Trugbild her zu hetzen, das man doch nie erreichen wird? Das Festival heißt offiziell »Internationale Filmfestspiele Berlin«. Wer allerdings Internationalität mit der Anwesenheit amerikanischen Filmstars gleichsetzt, der sollte vielleicht mal in sich gehen.

Auf der anderen Seite wurde im Vorfeld und zu Beginn der Berlinale die Besetzung der Jury mit einer in Deutschland trotz eines Oscars weitgehend unbekannten amerikanischen Schauspielerin als Präsidentin beklagt. Immerhin hat die Jury dann doch eine aus deutscher Sicht stark begrüßenswerte Entscheidung gefällt, was die Kritik an der Jury nach Ende des Festivals rasch verstummen ließ.

Die Berlinale ist aber schon heute weit mehr als ein Festival der Stars und der Filmkritiker und sie könnte das noch wesentlich deutlicher und klarer sein. Natürlich bedeutet dieses Festival für die einzelnen Besucher ganz Unterschiedliches – dennoch lassen sich auch Generaltrends herauskristallisieren und vorgezeichnete Linien weiterführen. Zwei davon sollen an dieser Stelle heraus gegriffen werden.

Das Festivals zeichnet sich durch verwirrende Vielfalt aus. Das ist gleichzeitig gut und schlecht, passt letztlich auch zum Veranstaltungsort Berlin, der gleichzeitig fertigsten und unfertigsten Stadt Deutschlands — in vielerlei Bedeutung dieser Worte. Allein schon die zahlreichen Sektionen des Festivals: Neben dem Wettbewerb gibt es das Forum und das Panorama, die sich jeweils noch in unterschiedliche Linien gliedern. Welcher Film auf Grund welcher Kriterien wo gezeigt wird, bleibt in vielen Fällen wohl für immer das Geheimnis der Organisatoren. Klarer ist das schon beim Kinderfilmfest der Berlinale und bei den »German Films«. Dann gibt es noch den Talent Campus und den Filmmarkt. Diese grundlegende Struktur des Festivals garniert der Veranstalter mit einer Vielzahl von räumlich getrennten Spielstellen und mit einem komplizierten Schema dafür, wo man für welche Vorführung mit welchem Fachbesucher- oder Presseausweis entweder Einlass erhält, Karten abholen kann oder kaufen muss.

Das alles scheint klar geregelt und streng reglementiert zu sein, aber auch hier ist die Welt voller Ausnahmen: »Ich hab eigentlich gar keine Karte, aber die Julia hat mich irgendwie reingeschleust.« Solcherlei hört man eigentlich ständig, wenn man in einem der Kinos sitzt. Und wieso auch nicht: So kommen letztlich vielleicht mehr Leute in die Festival-Kinos, die noch wirkliche Begeisterung für den Film mitbringen und die für die Filmbranche vielleicht sogar am allerwichtigsten sind.

Trotz dieser eigenartigen Mischung aus Reglementierung und Anarchie, trotz der Komplexität der Tagesplanung und der ständigen Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, trotz aller weiteren Widrigkeiten, kann man es aber schaffen, während der Berlinale neben abgrundtief schlechten oder mediokren, auch einige hervorragende, interessante, ungewöhnliche und anregende Filme zu sehen, von denen es einige ganz zu Unrecht nie ins deutsche Kino schaffen werden. Wer will, kann während der Berlinale sehen, was jenseits des Mainstreams geboten ist. Fremde Kulturen, die Arbeit anderer kennen zu lernen: Das ist befruchtend und befriedigend, ein Lichtblick selbst für die Zyniker und Abgeklärten unter den Besuchern. Das kann einen positiven Effekt auf die eigene Arbeit haben, auch wenn man nicht Drehbücher schreibt oder Regie führt. Man kann im Rahmen der Berlinale in vielen Fällen die Macher dieser Filme treffen. Wer offen ist, kann während der Berlinale seinen filmischen Horizont erweitern – und beileibe nicht nur den. Die Vielfalt ist also trotz aller Probleme, die sie mit sich bringt, ein wirklich großes Plus der Berlinale.

Neben den internationalen Gästen scheint alles, was irgendwie in Deutschland mit Film zu tun hat, während der Berlinale in der Hauptstadt präsent zu sein: vom Freak bis zum Fatzke, die ganze Palette der Filmbranche. Dass darin eine Chance liegt, das haben viele Firmen begriffen, die etwa als Sponsoren der Filmfestspiele auftreten oder eigene Veranstaltungen parallel zur Berlinale abhalten. So sind eben nicht nur L’Oreal, VW und Sat.1 als Hauptsponsoren vertreten, sondern auch Avid, Sony, T-Systems, Canon, Gahrens+Battermann, Barco und Feinwerk. Außerdem veranstalten Kodak, CineMedia, Arri und viele andere während der Filmfestspiele zahllose Events.

Wenn also auch von dieser Seite der Branche eh schon alle da sind, dann wirft das eine Frage auf: Weshalb nutzt man das nicht richtig aus?

Spinnt man diesen Ansatz weiter, drängt sich ein Gedanke in den Vordergrund: Die Cinec muss nach Berlin oder die Berlinale braucht einen Technikteil. In kaum einem anderen Medium ist schließlich die Verknüpfung zwischen Technik und Kreativität so eng, gibt es so viele Berührungspunkte zwischen den verschiedensten Welten, wie beim Film. Die Verbindung zwischen dem Endprodukt und den Werkzeugen, mit denen es hergestellt wurde, sie liegt deutlich auf der Hand. Die Berlinale könnte auch hierfür die Plattform sein: Die Hersteller, die Macher, die Kreativen, die Geldleute, alle sind sie ohnehin schon da. Warum sollte man die nicht auch auf dieser Ebene zusammen bringen?

In puncto Stars und Glamour, so muss man klar konstatieren, wird die Berlinale im internationalen Vergleich wohl auf absehbare Zeit stets zweite Wahl bleiben. Das schmerzt vielleicht, ist aber so. In diese Wunde legte auch Anke Engelke den Finger, als sie im Rahmen der Eröffnungsgala die Jury-Präsidentin Frances McDormand mit einer Frage nach der internationalen Bedeutung der Berlinale kurzzeitig in Verlegenheit brachte. Statt diesen vielleicht unangenehmen Umstand zu beklagen und ewig hinter her zu hecheln, sollte dieses Festival lieber sein eigenes Profil suchen, oder besser gesagt: Das, was ohnehin schon vorhanden ist, weiter ausbauen und stärker betonen. Schätzen und kultivieren was man ist, statt ständig etwas anderes sein zu wollen: Vielleicht liegt darin die eigentliche Tugend.

Das alles soll nicht die Bedeutung der Berlinale schmälern. Mag sein, dass die Filmfestspiele für den Kinomarkt, für die Stadt Berlin, für die Filmkritiker und viele andere Besucher, schon jetzt das Optimum erreichen, das unter den gegebenen Rahmenbedingungen möglich ist. Das mögen berufenere Beobachter beurteilen. Aber die Berlinale hat eben auch eine Bedeutung für und einen Effekt auf die produzierende Seite des Marktes und diese Aspekte könnten und sollten deutlich ausgeprägter sein: Das wäre sinnvoll und es drängt sich auf.

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