Editorial, Kommentar, Top-Story: 07.02.2006

Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom

In wenigen Tagen beginnt die Berlinale, und schon jetzt laufen sich Schauspieler und Filmschaffende warm für ihre großen Auftritte im zur Filmfestspielzeit stets kalten Berlin. Elf Tage lang werden dann die Feuilletons der Zeitungen im Wettstreit mit den TV-Kulturmagazinen aus Berlin berichten, werden Filmkunst, Stars und Sternchen porträtieren. Und in einigen Beiträgen werden wohl auch — wie eigentlich jedes Jahr — Kulturbeflissene darüber greinen, dass immer weniger Zuschauer den Weg ins Kino finden und durch diese Enthaltsamkeit die ewig währende Krise des deutschen Films verschärfen.

Dass tatsächlich immer weniger Leute ins Kino gehen, hat ganz sicher viele Ursachen. Und eine der für die Branche besonders störenden und am schwierigsten zu behebenden sind Raubkopien, die meist schon unmittelbar nach der Filmpremiere verfügbar sind. Es gibt aber zweifellos auch noch etliche andere Gründe für den Zuschauerschwund.

Viele mögen sich eben weder die übliche Massenware aus Hollywood ansehen, noch fühlen sie sich bei schwermütigen, verkopften Kunststreifen richtig aufgehoben.

Die Größe und Qualität des Bildes im Kino, der satte Surround-Sound, sie ziehen ganz offenbar bei vielen potenziellen Besuchern nicht mehr. Oft kommen als Hinderungsgründe noch die Randbedingungen hinzu: Viele sehen im Kino keine Alternative mehr dazu, zuhause, mit direktem Zugang zu Kühlschrank und Privat-WC, bequem vom Sofa oder Bett aus einen Film anzuschauen. Außerdem kann man in den eigenen vier Wänden auch ungestörter zwischendurch mal telefonieren, nebenbei chatten oder schnell eine SMS verschicken: wichtige Multitasking-Aufgaben, die man in einer allem Anschein nach generell vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) befallenen Gesellschaft eigentlich in jeder Lebenssituation immer noch parallel erledigen muss.

Andere haben schlichtweg keine Lust mehr, sich für drei Stunden ins Kino zu setzen, erstmal endlos Werbung und dann einen Film mit Überlänge anzusehen — denn seit Peter Jacksons Mammutwerken macht’s offenbar leider keiner der arrivierten Regisseure mehr unter mindestens 100, besser 120 Minuten.

Die Zeiten, in denen ein Spielfilm etwa 90 Minuten lang war, sie sind längst vorbei: Auch ein Peter-Jackson-Remake von »Der andalusische Hund« — im Original 17 Minuten lang — wäre unter drei Stunden eigentlich undenkbar. Seit die Computeranimation auf breiter Basis Einzug in den Kinofilm gehalten hat, brauchen auch die Akteure in Actionfilmen ganz schnell mal zwei Stunden, bis alle aktuellen Explosionen und sonstigen Spezialeffekte durchgehechelt sind. Selbst Woody Allen schafft es nicht mehr unter 100 Minuten, das Innenleben seiner Protagonisten nach außen zu stülpen.

Es ist eben im Kino wie im richtigen Leben: Es gibt nur sehr selten einen klaren, eindeutigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung.

Sie werden sehen.