Editorial, Kommentar, Top-Story: 23.07.2009

Geliehenes Leben

Kaufmännisch gesehen besteht zwischen dem Leihen und Mieten ein wichtiger Unterschied: Mieten kostet Geld, leihen ist kostenlos. Umgangssprachlich gibt es diese Unterscheidung nicht: Man spricht vom DVD- und vom Kameraverleih, auch wenn diese Dienstleistungen keineswegs gratis sind. Eindeutig und klar, so denkt der Normalbürger, ist der Fall aber, wenn es um die Unterscheidung zwischen mieten und kaufen geht.

In Wahrheit liegt hier jedoch ein wachsendes Minenfeld, in dem Lizenzen, Urheberrechte und Nutzungsbedingungen zusätzlich garniert mit Mischformen wie Leasing und Mietkauf, den Durchblick erschweren. Im digitalen Zeitalter, wo man oft gar kein materielles Produkt erwirbt, sondern nur eine Kopie und ein vielfältig beschränktes Nutzungsrecht, wird das alles nicht einfacher. Und nun hat das Online-Kaufhaus Amazon diesen Themenbereich noch um einen weiteren Aspekt erweitert.

Wer bei Amazon digitale Bücher kauft und auf sein Lesegerät lädt, dem sichert das Unternehmen zu: »Amazon grants you the non-exclusive right to keep a permanent copy of the applicable Digital Content and to view, use, and display such Digital Content an unlimited number of times.« Also alles wie beim Kauf eines gedruckten Buches: Man kauft das Buch, es gehört einem und man kann es so oft lesen, wie man will.

Bei einigen der elektronischen Buchtitel, die Amazon in den USA verkauft hat, stellte sich jedoch später heraus, dass es Probleme mit dem Urheberrecht gab: Amazon hätte diese digitalen Bücher gar nicht verkaufen dürfen. Elektronische Bücher von Amazon können mit einem rund 360 US-Dollar teuren, taschenbuchgroßen Lesegerät namens Kindle gespeichert und gelesen werden. Dieser Kindle verbindet sich regelmäßig mit Amazon – und diese Gelegenheit nutzte der Online-Händler, um die fraglichen Bücher von den Geräten der Kunden zu löschen. Das ist letztlich nichts anderes, als würde ein realer Buchhändler in Ihre Wohnung eindringen und ein Buch aus dem Regal nehmen, das Sie zuvor bei ihm gekauft und ordnungsgemäß bezahlt haben. Dass sich unter den betroffenen Titeln auch »1984« von George Orwell befand — die düstere Vision eines totalen Überwachungsstaats — gibt der ganzen Angelegenheit noch eine ganz besondere Note.

Ganz so, wie in »1984« nachträglich Personen und Ereignisse aus den Geschichtsbüchern getilgt werden, nahm sich also Amazon das Recht, seinen Kunden nachträglich die schon gekauften und bezahlten Bücher wegzunehmen. Die Rückerstattung des Kaufpreises hielt das Online-Kaufhaus für ausreichend, Erklärungen und Entschuldigungen gab es erst nach einer Protestwelle.

In diesem Licht sollten Sie es vielleicht auch betrachten, wenn sich Ihr iPhone oder Ihr iPod mal wieder automatisch mit einem der Apple-Online-Stores verbinden, wenn sich Xbox oder Playstation automatisiert neue Software laden, sich Ihr PC mit Software-Aktualisierungen, Bug-Fixes und Patches versorgt, Ihr All-in-one-Gerät über die Faxleitung Kontakt mit HP aufnimmt. Und wollen Sie wirklich Ihren PC zum bloßen Terminal degradieren, von dem aus Sie die Office-Software von Google nutzen? Wollen Sie Ihre privaten Fotos und Briefe wirklich auf den Rechnern eines IT-Konzerns speichern?

Die Zahl derer, die bei jedem Software-Update oder Online-Kauf die Nutzungsbedingungen lesen und verstehen, ist ohnehin gering. Der Amazon-Fall zeigt zudem, dass man sich diese Mühe letztlich auch sparen kann, weil der Lizenzgeber offenbar immer am längeren Hebel sitzt. Als wäre es nicht schon schwer genug, noch einigermaßen Herr seiner Daten zu bleiben, entscheidet nun also auch der Verkäufer darüber, was Sie von Ihrem Eigentum behalten dürfen — auch wenn Sie alles legal abgewickelt und brav bezahlt haben. Das digitale Leben ist in vielerlei Hinsicht nur ein geliehenes Leben.

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