Editorial, Kommentar, Top-Story: 15.06.2016

Grenzen ausloten

Ang Lee kann als weltbekannter Regisseur mittlerweile auf ein relativ breit gefächertes, reiches Werk zurückblicken, das auch schon vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Lee hat, inhaltlich wie technisch betrachtet, schon sehr unterschiedliche Filme realisiert: Zwei Oscars erhielt er für »Life of Pi« und »Brokeback Mountain«. Bekannt ist er aber auch für sein Martial-Arts-Drama »Tiger and Dragon«. Auch die Berliner Filmfestspiele zeichneten Ang Lee schon zwei mal mit dem »Goldenen Bären« aus, für »Das Hochzeitsbankett« « und »Sinn und Sinnlichkeit«.

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Ang Lee während des NAB-Panels.

Wenn nun ein solchermaßen hochdekorierter und erfolgreicher Regisseur vor einem Fachpublikum auftritt, um von einem aktuellen Projekt, aber auch ganz generell vom Filmemachen zu berichten, folgen natürlich sehr viele seinem Ruf. Bei einer Veranstaltung während der NAB2016 etwa berichtete Ang Lee unter der Überschrift »Pushing the Limits of Cinema« von seinem aktuellen Spielfilmprojekt »Billy Lynn«, das in mehrfacher Hinsicht interessant ist.

Einerseits betont Ang Lee stets, dass für ihn die Geschichte immer im Mittelpunkt eines Films stehe. Doch andererseits hat er sich bei seinem aktuellen Projekt für eine technische Lösung entschieden, die ihn und sein Team extrem fordert, denn er drehte »Billy Lynn« in 4K, Stereo-3D und mit 120 fps.

Wenn der Film im November 2016 herauskommt, wird es allerdings wahrscheinlich nur wenige Zuschauer geben, die den Film auch in seiner ganzen Pracht genießen können: Die meisten Kinos sind zwar heute in der Lage, einen Film in Stereo-3D zu zeigen, bei 4K wird es schon dünner und bei 120 fps müssen dann endgültig die allermeisten passen. Das weiß natürlich auch Ang Lee, dennoch lässt er sich immer wieder auf solche Experimente ein und orakelt vielsagend: »This will be a long journey. I think we’re at the beginning of finding out what digital cinema means. We’re not there yet.«

Interessanterweise gehörte Ang Lee zu denen, die sich der digitalen Kinoproduktion sehr lange verweigert hatten, wie er selbst berichtet. »Doch man muss sich und seine Arbeit immer wieder in Frage stellen«,  meint Lee. Das hat er in seiner Karriere auch immer wieder vorgemacht — nur so konnte letztlich auch sein vielschichtiges Oeuvre entstehen.

Von seinem jüngsten Projekt sagt Ang Lee, dass die eigentliche Arbeit für ihn nun in der Postproduktion stattfinde. Für ihn hat sich der Dreh demnach zu einem reinen »Capturing«-Prozess entwickelt, der kompliziert sei und teuer — aber eben nur den ersten Schritt darstelle: Das eigentliche Filmmaking finde in der Postproduktion statt, so Lee.

Das ist natürlich für Kameraleute ein schmerzhafter Stich ins Herz, denn es nimmt ihnen ein weiteres Stückchen Hoheit über die Bildgestaltung weg. Soll das wirklich alles sein, was übrigbleibt von diesem Berufsbild: Bild einigermaßen korrekt belichten, mit möglichst großem Dynamikumfang und in hoher Auflösung aufzeichnen, dabei einen ordentlichen Ausschnitt wählen — und den ganzen kreativen Rest übernehmen dann Schnitt und VFX?

Ist es etwa schon zu spät, gegenzuhalten? Steht etwa die kreative Seite der Kameraarbeit still, während sich in der Postproduktion immer größere Möglichkeiten entfalten? Natürlich ist das eine absichtlich übertriebene, einseitige Sicht und es gibt auch viele aktuelle Gegenbeispiele — aber dennoch scheint hier etwas ins Rutschen zu geraten.