Editorial, Kommentar, Top-Story: 13.10.2006

Einschnitte

Was lebt, das verändert sich. Legt man diese Maxime zugrunde, dann ist die TV-Branche quicklebendig: Sie verändert sich permanent und mitunter auch ziemlich rasch. Man könnte vielleicht sagen: diese Branche lebt intensiv. Tiefere Einschnitte, die es dabei durchaus auch mal gibt, werden — abhängig vom Temperament und dem Grad, in dem man selbst betroffen oder beteiligt ist — gern mal als Revolution, Paradigmenwechsel, Anbruch eines neuen Zeitalters oder Apokalypse beschrieben. Das trifft für die Medienwirtschaft, die Medienpolitik und die Medientechnik gleichermaßen zu.

So mancher wirklich tiefe Einschnitt wird aber zunächst gar nicht als solcher wahrgenommen und seine ganze Tragweite eröffnet sich erst viel später. Deutlich wird das, wenn man etwa im technischen Bereich einen Blick zurück wirft: Wodurch wurden die Broadcast-Abteilungen von Sony und Panasonic einst groß und branchenbestimmend? In erster Linie durch Formatentscheidungen. Noch Mitte der 80er-Jahre kaufte ein Kunde, der sich entschlossen hatte, mit einem bestimmten Videoformat zu arbeiten, in der Regel nicht nur einen Camcorder, sondern mindestens auch zwei, eher drei Videorecorder und jede Menge Kassetten in diesem Format. Dann — zwar nicht zwingend mit dem Videoformat verknüpft, aber meistens doch von einem der etablierten Hersteller produziert — auch noch einen Videomischer mit den passenden Schnittstellen, mehrere Monitore, einen Audiomischer. Schließlich noch Taktgeneratoren, Timecode-Equipment, einen Schriftgenerator, TBC/Signalwandler sowie in nicht unerheblichem Umfang Kabel und weitere Infrastrukturprodukte.

Die meisten Produktionen, die dann mit diesem Equipment realisiert wurden, kann man heute mit einem Camcorder, einem Firewire-Kabel, einem mittelmäßigen Laptop und ein bisschen Software herstellen: in besserer Qualität und mit einem Bruchteil der früher nötigen Equipment-Investitionen. Zudem sind die Kunden bei Hard- und Software heute in vielen Aspekten wesentlich freier, Equipment aus verschiedenen Quellen zu beziehen und zu kombinieren.

Hier hat eine wirklich massive, tiefgreifende Marktveränderung stattgefunden, die noch deutlich weiter geht, als bisher angerissen: Das Akquisitionsformat war früher mal ein dominanter, bestimmender Faktor für sehr viele weitere technische Entscheidungen. Heute ist das längst nicht mehr so: Mit dem Einzug von IT-Komponenten in die Bearbeitung, Speicherung und Sendeabwicklung, sieht die technische Seite des TV-Bereichs mittlerweile ganz anders aus, als noch vor wenigen Jahren. Das Aufkommen von NLE-Systemen und Servern hat die Branche stärker umgekrempelt, als wohl die allermeisten damals dachten, als diese Entwicklung ihren Anfang nahm.

Und heute? Heute spielen Formatentscheidungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Anwender kaufen kreuz und quer, was gerade für den jeweiligen Fall passt. Der Preis für diese Freiheit ist, dass es keine Kontinuität und Durchgängigkeit mehr gibt, dass die Standardisierung und Normierung der technischen Praxis weit hinterherhinkt, dass die Zahl der Formate und der einzelnen Anbieter, die man für ein großes Projekt braucht, so groß wie nie ist — bei gleichzeitig insgesamt sinkendem Sachverstand auf beiden Seiten des Marktes. Deshalb sind die kommenden Könige der Branche diejenigen, die es verstehen, aus einzelnen Patchwork-Flicken wieder einen Teppich zu machen. Wer das beherrscht, kann sich sein Wissen schon heute teuer bezahlen lassen. Das können etablierte Anbieter sein, die sich entsprechend anpassen und verändern, aber auch ganz neue Marktteilnehmer. Es wird spannend sein zu beobachten, wer sich durchsetzen wird.

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Autor
Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller
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