Branche, Top-Story: 03.03.2006

Wir sind wieder Bär

Bei der diesjährigen Berlinale waren nicht nur viele Beiträge aus Deutschland zu sehen, sondern es gab auch in wichtigen Kategorien wieder einheimische Preisträger. Das lässt hoffen, es besteht aber auch keineswegs Anlass zu Größenwahn. Ein persönlicher, kommentierender Rückblick auf die Berlinale 2006. (Eine druckfreundliche PDF-Version dieses Artikels mit Preisträgertabellen, Filmtipps und weiteren Bildern steht am Ende dieses Online-Artikels zum Download bereit.)

Die 56. Berlinale liegt hinter uns. War sie ein Erfolg? Der Veranstalter findet schon und legt — quasi als Beleg dafür — unter anderem eine Liste von Promis vor, die sich während der Veranstaltung die Ehre gaben, persönlich zu erscheinen. Aber auch Zahlen untermauern das Erreichte: 19.000 Akkreditierte aus 120 Ländern, darunter 3.800 Journalisten besuchten demnach das Festival. 150.000 Zuschauer bevölkerten die Kinosessel und schauten sich in 1.115 Vorführungen 360 Berlinale-Filme an. Es wurden mehr als 60 Preise und Lobende Erwähnungen an Personen oder Filme verliehen (Tabellen in der PDF-Version des Artikels).

Schon die Zahlen zeigen, dass man als Einzelner beim Versuch, sich einen Überblick von auch nur annähernder Allgemeingültigkeit und Objektivität zu verschaffen, kläglich scheitern muss. Bei diesem kleinteiligen, vielschichtigen Festival, das neben den am meisten beachteten, großen Sektionen Wettbewerb, Panorama und Forum noch etliche andere Untergliederungen und Reihen bietet, bleibt einem nichts, als sich in puncto Überblick auch auf andere zu verlassen. Tut man das anhand von Gesprächen und der veröffentlichten Berichterstattung, dann fällt ein Faktum auf: Viele orientieren sich auch bei der Beurteilung der Filmfestspiele am »Medaillenspiegel« — vielleicht liegt das auch daran, dass die Berlinale im Jahr 2006 zeitlich in die Olympischen Winterspiele eingebettet war: Viele Auszeichnungen für deutsche Produktionen, also ein gutes Jahr für den deutschen Film — so lautet die Gleichung.

In der Tat spielte der deutsche Film während der diesjährigen Berlinale bei den Preisen und in der aktuellen Diskussion wieder eine größere Rolle — und das obwohl ja auch im Vorjahr schon mit »Sophie Scholl« ein deutscher Beitrag erst in Berlin und dann international auf positive Beachtung gestoßen war. Neben den Wettbewerbsbeiträgen und den prämierten Darstellern, wurden auch Beiträge gelobt und diskutiert, die es nicht in den Wettbewerb geschafft hatten, sondern in anderen Sektionen gezeigt wurden. Im Beispiel von Detlev Bucks »Knallhart« sahen viele nicht nur eine Reifung dieses Regisseurs, sondern auch die endgültige Befreiung von der Komödienobsession im deutschen Kino, ganz nach dem Motto: »Wir können auch anders«.

Aber die Fixierung auf den nationalen Filmmarkt würde der Berlinale nicht gerecht, die ja unter dem vollständigen Titel »Internationale Filmfestspiele Berlin« antritt.

Auch in diesem Jahr blieb die Jury in der jahrzehntelangen Tradition, mit den Preisen auch politische Akzente zu setzen. Gleichzeitig sah man sich aber offenbar auch in der Pflicht, symbolträchtig zu Werke zu gehen: So sprachen die Juroren den silbernen Bär ex aequo einem iranischen und einem dänischen Film zu — was nicht wenige als mindestens eine Spur zu dick empfanden.

Dass die Hauptjury dem Film »The Road To Guantanamo« vom Regieduo Winterbottom/Whitecross ausgerechnet den Silbernen Bären für beste Regie zusprach, fanden ebenfalls nicht wenige verwunderlich. Unabhängig davon, wie man zur generellen Machart und Aussage des Films steht, gibt es gerade in diesem Werk nämlich eklatante handwerkliche Regiemängel zu besichtigen: Wer praktisch ohne Gepäck und ohne Komfort unter widrigen Umständen mehrere Tage durch öde Wüstenländer reist, dabei auch unter freiem Himmel übernachtet, der trägt am Morgen einfach keine blütenweißen Kleider und sieht auch nicht aus, wie frisch aus der Maske — und das ist nur ein ganz harmloses Beispiel.

Bis auf den Publikumspreis der Berliner Morgenpost ging der Beitrag »A Prairie Home Companion« von Altmeister Robert Altman leer aus — vollkommen zu Recht, denn diesem Old-Man’s-Movie können wahrscheinlich selbst Country-Music-Fans nur wenig abgewinnen: Die Erkenntnis, dass Altman sich den Sensenmann als blonde Frau in einem weißen Trenchcoat vorstellt, trägt den Film ebenso wenig, wie die Aussage, dass früher zwar auch nicht alles perfekt, aber letztlich doch irgendwie besser war.

Nun soll hier nicht jede Entscheidung jeder der zahlreichen Jurys kommentiert werden — zumal ohnehin jedem klar sein dürfte, wie relativ solche Entscheidungen sind — aber eine soll noch herausgegriffen und gelobt werden: Den Alfred-Bauer-Preis erhielt »El Custodio« von Rodrigo Moreno. Der Film hat Schwächen und wird, falls er überhaupt ins deutsche Kino kommt, garantiert kein Kassenhit, denn es ist letztlich ein Film der zum großen Teil von Eintönigkeit und Langeweile handelt. Aber er hat genau den richtigen Preis erhalten, denn der Alfred-Bauer-Preis, benannt nach dem 1986 verstorbenen Gründer sowie ersten und langjährigen Direktor der Filmfestspiele wird verliehen »für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet«. Das tut der Film über praktisch alle daran beteiligten Gewerke hinweg.

Kaum einer wird es während der Berlinale schaffen, alles zu sehen, was ihn eigentlich interessieren würde. Nicht bloß, weil der Tag nur 24 Stunden hat, sondern weil es in vielen Fällen schwer bis unmöglich ist, Einlass zu finden: Kartenengpässe und endloses Schlangestehen gehören für Normalsterbliche unter Publikum, akkreditieren Besuchern und Journalisten eben genauso zur Berlinale, wie kaltes, unwirtliches Wetter.

Ein Filmfestival ist ein Branchentreff, eine Leistungsschau und neben vielem weiteren — und ganz sicher nicht zuletzt — auch ein gesellschaftliches Ereignis. Während der Berlinale gehen auch Leute ins Kino, die sonst aus den verschiedensten Gründen ganz sicher nicht so häufig dort anzutreffen sind. Und wenn sie selbst während der Berlinale nicht ins Kino gehen, so kommen sie doch gern zu den diversen Empfängen und Parties im Umfeld.

Dort kann man etwa erfahren, dass Deutschland eigentlich aus lauter wichtigen und weiterhin aufstrebenden Medienstandorten in den Regionen besteht, die alle neben fantastischen Locations auch eine moderne, komplette Medieninfrastruktur bieten. (Lebe ich in einem anderen Land?)

European Film Market

Während im Festivalteil aber insgesamt die künstlerische, inhaltliche und politische Seite des Filmgeschäfts eine Rolle spielt, konzentriert sich der gleichzeitig stattfindende European Film Market auf die geschäftliche Seite — auch wenn etliche der dort vertretenen Aussteller das ganz sicher verneinen würden. Es geht beim European Film Market, der erstmalig im Martin-Gropius-Bau stattfand, im Wesentlichen um den Filmhandel. Mehr als 250 Aussteller hatten sich zu diesem Zweck dort eingefunden und 650 Filme mitgebracht. Aus Sicht des Veranstalters hat der »EFM nicht nur erheblich an Größe und Bedeutung gewonnen, sondern auch erfolgreich seine Neupositionierung in der internationalen Branche realisiert«. Alle Aussteller haben nach Veranstalterangaben bekundet, auch im kommenden Jahr wieder dabei sein zu wollen. Um weiteres Wachstum zu erlauben, soll 2007 auch das dritte Stockwerk des Gropius-Baus zu nutzen.

Die meisten neuen Aussteller kamen in diesem Jahr aus den USA und Asien. Focus Features, Lakeshore Entertainment und die Weinstein Company waren erstmals auf dem EFM vertreten, Cineclick Asia und Shochiku hatten erstmals eigene Stände.

Randthemen des Festivals

Ein Filmfestival, das ist Werbung fürs Kino und für den Film. Insofern sollte man sich als deutscher Branchenteilnehmer über alles freuen, was die Aufmerksamkeit auf die Berlinale zieht — auch wenn es manchmal schwer fällt. Etwa dann, wenn in einer Tageszeitung als Berlinale-Berichterstattung gilt, wenn sich ein Feuilletonist spaltenweise darüber auslässt, dass und weshalb die Deutschen zu Empfängen und Galas im Umfeld der Filmfestspiele angeblich nicht schick genug erscheinen. Auch von Michael Ballhaus, der in diesem Jahr mit einer Berlinale Kamera geehrt wurde, konnte man Äußerungen lesen, die sicher nicht jeder als zeitgemäß empfindet: Er sagte sinngemäß, man solle einfach die Preise für die ohnehin oft knappen Karten erhöhen, dann würden sich die Leute auch schicker anziehen, wenn sie ins Kino gehen.

Darüber kann man denken, was man will — dem Autor begegnete dagegen ein weit simpleres, entfernt verwandtes Problem, das nach eigenen Erfahrungen interessanterweise bei Festivals besonders häufig auftritt: Dass einem der extreme Körpergeruch eines im Umfeld Sitzenden einen ganzen Film vergällt. Eine Woche völliger Verzicht auf jegliche Körperpflege reicht nach meiner Einschätzung nicht aus, um eine solche unausblendbare olfaktorische Präsenz zu entfalten, wie ich sie von einigen — zum Glück ganz wenigen — Menschen mit roten und blauen Akkreditierten-Ausweisen während der Berlinale im Kino erleben musste. (Liegt in den jeweils anderen Kinobesuchern, besonders in den Raschlern, Laberern, Stinkern unter Ihnen, vielleicht auch ein Grund dafür, dass insgesamt weniger Leute ins Kino gehen?)

Natürlich sind das persönliche Befindlichkeiten, mit denen sich Leser von www.film-tv-video.de üblicherweise nicht konfrontiert sehen. Aber der Besuch eines Filmfestivals ist eben eine viel persönlichere, emotionalerer Sache, als ein Bericht über technische Fakten.

Zurück zum Kern des Festivals. Besser gesagt zur Frage: Was ist eigentlich der Kern dieses Festivals?

Für den einen ist es eben tatsächlich die wichtigste Sache, Celebrities zu sehen, darüber zu berichten oder zu lesen, wer mit wem auf welchem Empfang war und dabei welches Kleid getragen hat. Und wie schon gesagt: Alles, was die allgemeine Aufmerksamkeit irgendwie auf die Berlinale lenkt, könnte schließlich für die Branche nützlich sein. Aber bringt es die Leute auch ins Kino? Oder geht es darum gar nicht (mehr)?

Video weiter auf dem Vormarsch: in HD aber auch in SD

Zum Schluss noch ein Blick auf die technische Seite: Wieder ist die Zahl der bei der Berlinale gezeigten Produktionen gewachsen, bei denen Video in SD und HD zum Einsatz kam — sowohl in der Produktion, wie in der Projektion. Insgesamt wurden laut offiziellem Programm in den offiziellen Sektionen des Festivals elf Filme ausschließlich in HD projiziert (darunter auch der Wettbewerbsbeitrag »Wuji« und die Spezialvorführung einer restaurierten Version von »Pat Garrett & Billy the Kid«) und 28 ausschließlich in SD (ohne Kurzfilme, ohne Wiederholungen).

Die Gründe, elektronische Aufnahmeverfahren in der Produktion einzusetzen, sind dabei fast genau so breit gefächert, wie die Themen der Filme. So musste etwa Katharina Otto-Bernstein für »Absolute Wilson« teilweise auf wirklich grausam schlechte Videoaufnahmen zurückgreifen, weil es von bestimmten Produktionen des Theatermannes Wilson gar kein anderes Bildmaterial gibt. Chronische Unterfinanzierung seines Projekts zwang Marcus Welsch, »Katharina Bullin — und ich dachte ich wär die Größte« in DV zu drehen. Dass es aber nicht immer nur die Not sein muss, die Video ins Kino führt, zeigt »La Gran Final« von Gerardo Olivares. Dieser Film tritt in gewisser Weise in die Fußstapfen des Disney-Films »Die Götter müssen verrückt sein«, auch wenn der Regisseur und Autor das vermutlich nicht gern hören dürfte. Gedreht hat Olivares eine Komödie mit Laiendarstellern aus Nomadenstämmen: Mongolen, Tuareg und Amazonas-Indianer. Er drehte in HD »weil alles andere gar nicht machbar gewesen wäre«. Olivares erläuterte nach der Premiere seines Films, dass das Drehen mit Laien, deren Sprache man nicht spricht und die Dreharbeiten unter äußerst technikfeindlichen Umständen für ihn klare Argumente für HD gewesen seien. Dieser Film zeigt, wie gut HD im Kino aussehen kann. Olivares und sein Team sind Ethno- und Naturfilmer, die ihr Metier beherrschen.

Den Termin für die kommende 57. Berlinale haben die Veranstalter auf den 8. bis 18. Februar 2007 festgelegt.

Downloads zum Artikel:

T_0206_Berlinale_2006.pdf