Editorial, Kommentar, Top-Story: 23.05.2015

TV ist tot. Schon wieder.

In den vergangenen Wochen tourte der Netflix-Gründer Reed Hastings durch Deutschland und verkündete, dass das lineare Fernsehen sterben werde und Streaming-Dienste an dessen Stelle träten.

Sind Sie noch da? Oder ist Ihnen nach einem kurzen Gähnen der Kopf auf die Tastatur gefallen? Wäre verständlich, denn die Prophezeiung vom unmittelbar bevorstehenden Ableben des klassischen TV-Markts haben wir nun wirklich schon sehr oft gehört — und weil Reed Hastings eben der Chef von Netflix ist, kann seine Sichtweise auch nicht wirklich überraschen: Wer einen Streaming-Dienst leitet, von dem ihm große Teile gehören, und wer ankündigt, dass sein Unternehmen international massiv wachsen und die aktuelle Nutzerzahl von rund 60 Millionen bei weitem übertreffen wolle, der sagt halt sowas.

Neu und richtig ist es dadurch allerdings noch nicht: Schon vor zwei Jahren vertrat etwa Google-Chef Eric Schmidt die Ansicht, dass Youtube den Kampf um den TV-Markt längst gewonnen habe (Editorial hierzu)  — und Todesankündigungen für den TV-Bereich begleiten die Branche schon seit langer Zeit und waren auch immer wieder Thema von Newsletter-Editorials (etwa im Februar 2015, im September 2013 und im April 2013, um nur einige zu nennen).

Reed Hastings hält es generell für einen absoluten Anachronismus, dass sich der Zuschauer die Nachrichten oder Filme dann ansieht, wenn sie halt grade im linearen Fernsehprogramm laufen. In Interviews, die er in Deutschland gab, konnte Hastings es offenbar kaum glauben, dass es hierzulande tatsächlich noch Zuschauer gebe, die sich am Sonntag um 20:15 Uhr vor den Fernseher setzten, um den »Tatort« zu sehen.

Das ist aber nunmal so. So verfolgten 9,89 Millionen Zuschauer am vergangenen Sonntagabend die Arbeit eines neuen TV-Ermittlerteams aus Frankfurt — obwohl sie gar nicht wissen konnten, was sie bei diesen neuen Fernsehkommissaren erwartet und obwohl es innerhalb der »Tatort«-Reihe sehr große Qualitätsschwankungen gibt.

Außerdem: Ganz so alternativlos, eindeutig und klar, wie Hastings die Entwicklung von klassischem Fernsehen hin zu Streaming-Anbietern zeichnet, ist die Sache keineswegs. 

Aktuell etwa verfügen viele Kunden in Deutschland und weltweit gar nicht über eine ausreichend leistungsfähige Anbindung, um auf breiter Basis hochaufgelöste Inhalte per Streaming zu empfangen. Wer in Deutschland irgendwo auf dem flachen Land wohnt, hat möglicherweise gar keinen Breitbandanschluss – und wird ihn in naher Zukunft auch nicht bekommen. Und wer im städtischen Umfeld eine DSL-Leitung nutzt, der kann durchaus merken, wie die Datenrate in die Knie geht, wenn auch die halbe Nachbarschaft am Wochenende Kinoinhalte streamen oder große Datenmengen verschieben will.

Flächendeckende Glasfaser muss her! Aber wird und kann die Infrastruktur überhaupt schnell genug wachsen, um hier mal wieder etwas Luft zu haben? Oder hechelt die Übertragungstechnik in Zukunft immer weiter hinter den bandbreitenhungrigen Angeboten der Inhalte-Anbieter her?

Ein anderer Aspekt: Zeitliche Freiheit und Selbstbestimmung beim Medienkonsum sind schön, sie stellen aber eben nur einen Aspekt bei der »Befreiung des Konsumenten« dar. Die Fragen des »Was läuft wo?« und »Wer hat was im Angebot?«, sie bleiben. Der Streaming-Markt ist unübersichtlich und die Gefahr, den »falschen« Anbieter abonniert zu haben, groß: »Plötzlich sprachen alle Kollegen über eine bestimmte Serie, da musste ich den Streaming-Anbieter wechseln.« Ist das realistisch? Oder ist hier nicht der Weg in die illegalen Angebote vorgezeichnet?

Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Streaming-Dienste werden künftig ganz zweifellos weiter an Bedeutung gewinnen. Aber anstatt immer nur gebetsmühlenartig das Ende des klassischen Fernsehens auszurufen, das — wenn es denn jemals eintritt — weit in der Zukunft liegen wird, sollten sich die Streaming-Anbieter vielleicht lieber etwas intensiver um ihre eigenen, aktuellen Probleme kümmern.

Sie werden sehen.

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