360-Grad-VR, Report, Top-Story: 02.09.2016

»Mythos Wolfskind«: Terra X-Doku in 4K und mit 360°-Angebot

Die neue »Terra X«-Dokumentation geht dem Phänomen »Wolfskind« nach. Die Doku wurde vollständig in 4K produziert. Die Fernsehausstrahlung wird in HD erfolgen, in 4K steht die Dokumentation als Download und über HbbTV bereit.

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In eine neue Dimension eintauchen

Regisseur und ZDF-Redakteur Jens Monath über die Herausforderungen bei 360°-Dreharbeiten

Nico Joillet, unser Kameramann für die 360°-Aufnahmen, war an diesem Morgen um vier Uhr aufgestanden. Er wollte lange vor Sonnenaufgang am Set sein. Ein indisches Dorf, malerisch umringt von Bergen mit verstreuten kleinen Häusern. Für uns Filmemacher, die einen »normalen« 2D-Film für das Fernsehen machen wollten ein Set, das wir mit ein paar Requisiten und den richtigen Kostümen für die Schauspieler relativ unkompliziert in einen Ort aus dem 19. Jahrhundert verwandeln konnten. Wir suchten uns einfach eine Richtung aus, in die wir drehten, staffierten sie mit den richtigen zeitgenössischen Dingen aus und los ging es. Für Nico war das sehr viel schwieriger, denn er drehte 360°, also rundherum in alle Richtungen. Und zusätzlich noch mit einer Drohne aus der Vogelperspektive. Für Nico hieß das: lange vor uns da sein, bevor wir aus einer malerischen Location einen lärmenden Set machen. Denn dann hätte seine 360°-Drohnenkamera kein Bild ohne wuselnde Menschen einfangen können. Also filmte Nico mit seiner Drohnenkamera gleich mit dem ersten Licht und gerade als er fertig war hörte er, wie Dutzende Autos die Straße zum Dorf hocheilten und den malerischen Set zerstörten.

Diese kleine Anekdote enthält vieles von dem, was Drehen in 360° ausmacht: Es braucht Orte und Sets, die es erlauben, einmal rundherum abdreht zu werden, ohne dass störende Dinge im Bild sind – Dinge, die zum Beispiel nicht in die Zeit passen, die wir gerade zum Leben erwecken, in unserem Fall meist das 19. Jahrhundert oder Moglis Dschungelwelt. Denn selbst in den einfachsten indischen Dörfern steht heute irgendwo ein Lichtmast, ein einbetonierter Generator, zahllose Mopeds und noch mehr Fahrräder. Also galt es bereits bei der Auswahl der Sets für den 2D-Dreh immer mitzubedenken, ob dort im Anschluß eine 360°-Einstellung gedreht werden könne und mit wieviel Mehraufwand das verbunden wäre. Und wenn man anfängt, nach solchen Locations zu suchen, müssen viele schöne Sets aussortiert werden, weil sie die Bedingung nicht erfüllen, weil sie nicht 360° tauglich sind.

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Die Kameramänner Jan Prillwitz und Mickey Bühler bereiten in Uganda die Drohne für Flugaufnahmen vor.

Es kostete uns daher einige Tage vor den eigentlichen Dreharbeiten, bis wir diese Orte gefunden hatten. Dann aber konnte auch Nico Joillet, unser Schweizer Kameramann, der für eine auf 360°-Aufnahmen spezialisierte Firma aus Kanada arbeitet, sein Werk tun. Sei es mit diversen Kamera-Rigs, auf denen sechs, sieben oder acht 4K-Actioncams montiert wurden, sei es mit einer Cable-Cam, die wir zwischen Säulen aufhängten und damit ganz ruhige Fahrten zwei bis drei Meter über den Boden machten, sei es mit einer Drohne, die uns spektakuläre Flugaufnahmen in 360° erlaubte. Dabei hatten Nico und ich uns abgesprochen, welche 360°-Bilder ich mir als Ergänzung zu den 2D-Bildern vorstellte, so dass sich alles harmonisch zu einem Ganzen fügte.

Die Dreharbeiten im szenischen Bereich waren nicht so kompliziert: Jedes kontrollierte Set kommt 360°-Aufnahmen entgegen, weil man steuern kann, was im unmittelbaren Umkreis der Kameras geschieht. Und wenn sich eine Lücke auftut, schickt man eben noch einen Komparsen dahin, gibt ihm eine Aufgabe, sodass in allen Richtungen, vorne, hinten, rechts, links und sogar unten oder oben etwas geschieht, es also immer etwas für den Zuschauer zu entdecken gibt. In der Praxis lief das so ab, dass wir immer zuerst die 2D-Szene mit unserem 4K oder sogar 8K Equipment abdrehten, die Schauspieler und Komparsen einige Male den Ablauf probten, sodass in der anschließend zu drehenden 360°-Sequenz die meisten Darsteller schon wussten, was zu tun war.

Der Reiz dieser 360°-Aufnahmen besteht in der Immersion, in dem Ein- oder Abtauchen in einen Raum. Vor allem auch dann, wenn man die kombinierten 360°-/2D-Filme mit einer VR-Brille sieht. Es ist eine Sache, einem Schlangenbeschwörer zuzuhören, vor dem zwei Kobras auf- und abtauchen, die den Bewegungen der Flöte folgen, nicht der Musik. Im klassischen 2D ist das ein Bild oder eine geschnittene Sequenz. In 360° wird daraus ein richtiger kleiner Schocker: Wenn man die Brille aufhat, sieht man vor sich einen Mann, der Flöte spielt. Dann aber hört man hinter sich ein Zischen und dreht sich um: zwei Kobras stehen direkt, in unmittelbarer Nähe vor Einem und dann schnappen sie zu. Zwei-, drei Mal hacken sie auf die Kamera ein und man zuckt als Betrachter, der  die Position dieser Kamera einnimmt, unwillkürlich zurück. Ein Erlebnis, das es nur in 360° in dieser Qualität gibt.

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Bei den Dreharbeiten in Uganda wird der Kameramann Jan Prillwitz von vielen Augen beobachtet.

Das bedeutet aber auch, dass man sein 360°-Motiv sorgfältig wählen sollte. Ist das Motiv eine sinnvolle Ergänzung zu einem 2D-Bild? Was genau ergänzt es, welche zusätzliche Perspektive gibt es dem Zuschauer? Und eine Frage, die sich jeder Regisseur stellen muss: Wie lange lasse ich ein 360°-Bild im Film eigentlich stehen? Meine Antwort lautet: Es kann alles sein, je nachdem, wieviel im 360°-Rahmen geschieht. Manche Bilder gleichen Dia-Aufnahmen, eben nur in einem kreisrunden Umfang, andere eröffnen mir immer wieder ein neues Erlebnis, weil sie meinem Blick lenken, durch Musik oder Geräusche, durch eine Handlung oder ein Naturereignis. So in der Szene, als Mogli zu einem Baum geht, in dem Glühwürmchen leben und sie in seine Hand nimmt und in die Luft bläst. Wer jetzt ihrem Flug folgt, wird einer ganz eigenen Verzauberung des Waldes erliegen.

Fast alle 25-30 Szenen, die wir während der Dreharbeiten in 360° zusätzlich drehten, haben diesen Anspruch: Sie sollen ein schon bestehendes 2D-Bild ergänzen und eine neue Dimension in das schon Erlebte einfügen. Doch haben wir nicht nur szenische Bilder in 360° gedreht. Auch eine Reihe reiner Dokumentaraufnahmen sind so entstanden, neben Indien vor allem in Uganda. Diese Aufnahmen leben von dem Reiz des Fremden: Wenn man rings um sich herum sieht, wie eine afrikanische Stadt lebt, wie sie wuselt und voller Action ist. Oder wenn man bei einer 360°-Fahrt-Aufnahme dabei ist, wie sich ständig, in alle Richtungen, die Natur verändert. Oder wenn man mit John Ssebunya, dem Jungen, der wohl Jahre im Busch mit Affen lebte, am Lagerfeuer sitzt, zusammen mit den Kindern des Dorfes und seinen Geschichten zuhört. Das sind magische, aber wirkliche Momente, die nur davon leben, dass man während des Betrachtens glaubt, wirklich dort zu sein.

Für mich hat sich das mitunter nervenaufreibende und zeitaufwändige Drehen mit 360° voll ausgezahlt, weil es mir die Dimension des Abtauchens ermöglicht, anders als in 2D. Ich kann jedem nur empfehlen, sich diese Filme mit der Brille anzuschauen – sie ermöglichen einem dieses einzigartige Gefühl, dabei zu sein – ohne Wenn und Aber.

Jens Monath, Redaktion Terra X

Seite 1: Herausforderungen einer 4K-Produktion
Seite 2: Bildgestaltung in 4K
Seite 3: Dreharbeiten in 360°
Seite 4: 4K erfordert eine andere Schnittgeschwindigkeit
Seite 5: Wie kann der Zuschauer 4K und 360° sehen?

Autor
Jens Monath, Matthias Haedecke, Uwe Kling, Frank Flick, Alexander Pfeiffer, Rainer Kirchknopf, Eckart Köberich,

Bildrechte
ZDF/Jens Monath (9), Mickey Bühler (1), Stavros Amoutzias (1), Jan Prillwitz (2)

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