Branche: 11.04.2002

NAB2002: Unterschiedliche Mentalitäten, unterschiedliche Märkte

Die NAB bleibt auch im Jahr 2002 für Europa wichtig, aber sie wird nicht übermächtig.

Um es vorweg ganz deutlich zu sagen: Die NAB2002 ist nach wie vor die Lead-Messe der gesamten Branche, sie bleibt die weltweit wichtigste Tradeshow im Jahresablauf. In Las Vegas zeigen die Hersteller ihre jüngsten Produkte, kündigen neue Strategien an und versuchen, die Weichen für die kommenden Monate zu stellen. Das hat vielerlei Gründe, hat mit Tradition und Marktvolumen zu tun, auch damit, dass das Geschäftsjahr der meisten japanischen und vieler amerikanischer Unternehmen am 1. April beginnt und die NAB somit die erste Messe im neuen Geschäftsjahr ist. Schon allein aus diesen Gründen wird die NAB aller Voraussicht nach auch in Zukunft für den europäischen Markt eine wichtige Rolle spielen.

Die Märkte klar zu beurteilen, fällt aber immer schwerer. Ein Beispiel: Der US-Chef von Panasonic Broadcast, John Baisley, konstatierte in der NAB-Pressekonferenz seines Unternehmens, dass in den USA zwar schon viel HDTV ausgestrahlt, aber wenig in HD produziert werde. Wenige Stunden später analysiert Edward Grebow, Deputy President von Sony Broadcast in den USA, dass die Branche mit der Umsetzung der amerikanischen DTV-Pläne weit im Rückstand sei, also noch viel zu wenig HDTV ausgestrahlt werde, der Wandel zu HD aber in den USA von der Produktionsseite aus massiv getrieben werde.

Selektive Wahrnehmung, Wunschdenken, oder haben beide irgendwie recht? Da ist die Situation in Europa klarer: Hier gibt es keine reguläre HDTV-Ausstrahlung, aber das Interesse an der HD-Produktion ist massiv gewachsen.

Insgesamt zeichnet sich beim Thema NAB eine klare Trendwende ab: Zwar wird den Produkt- und Technologie-Neuheiten nach wie vor ein hoher Stellenwert eingeräumt und sie behalten in den meisten Fällen internationale Bedeutung, wenn auch eben teilweise mit Unterschieden im Timing: So war digitales HD-Equipment in den USA prinzipiell schon früher interessant und auch wichtiger als in Europa, aber Europa holt nun wieder auf. Europäische Besucher sehen jedoch die anderen Zukunfts-Szenarien, die jenseits der konkreten Produkte während der NAB diskutiert werden, mit zunehmender Skepsis. Ganz ähnlich wie beim jetzt zumindest im Rahmen der NAB2002 praktisch toten Thema Streaming, bei dem die meisten Europäer von Beginn an skeptischer waren. Immer öfter ist bei einzelnen Themen etwa zu hören: »Das ist für den europäischen Markt eigentlich völlig irrelevant.« Oder auch: »Man weiß ja, dass hier gerne übertrieben wird, wir warten die weitere Entwicklung erst Mal ab«.

Diese eher zurückhaltende Haltung mag zum Teil einfach nur an der unterschiedlichen Mentalität der Europäer und der Amerikaner liegen, sowohl auf der Besucher- wie auf der Herstellerseite. Zu einem guten Teil kommt sie aber auch daher, dass unterschiedliche Märkte eben auch ganz unterschiedliche Konzepte und Strategien erfordern.

Im Klartext: Was in den USA funktioniert, taugt deshalb noch lange nicht als Erfolgsformel für die ganze Welt. Ein Beispiel: Während Sony das Betacam-SX-Format im US-Markt recht erfolgreich platzieren konnte, haben SX-Anwender in Europa fast schon exotischen Charakter. Umgekehrt steht der Großteil der ausgelieferten IMX-Maschinen in Europa, in den USA interessierte man sich zumindest bislang nicht so sehr dafür.

Das liegt unter anderem auch an der ganz unterschiedlichen Produktionsstruktur und TV-Landschaft in Nordamerika und Europa, wobei genau genommen eigentlich auch gar keine »europäische Fernsehlandschaft« existiert, sondern die einzelnen europäischen Regionen und Länder sich unterscheiden. So ist etwa DVCPRO in den skandinavischen Ländern weiter verbreitet als IMX und das betrifft eben nicht nur Sony und Panasonic, sondern auch Firmen wie Avid, Pinnacle Discreet und viele weitere, die eben nur dann im jeweiligen Markt eine Rolle spielen können, wenn sie zum jeweiligen Format kompatibel sind.

Diese differenzierte Sicht geht während der NAB oft unter, weil diese Messe eben trotz bislang stetig wachsender internationaler Besucherzahl doch sehr US-zentriert ist. So kommen etliche europäische Entscheider immer wieder mit gemischten Gefühlen zur NAB, der sie einerseits eine wichtige Stellung zubilligen, deren Eigenheiten sich aber manchmal nur schulterzuckend mit »That“s America« erklären lassen.

Sicher nicht die schlechteste Haltung, solange man einen gesunden Kompromiss findet. Denn wer das laute Marketing-Getöse der NAB als gegeben hinnimmt aber gehörig filtert oder ausblendet, findet in Las Vegas auch viele Ansätze, Produkte und Strategien, die für den europäischen Markt interessant und sinnvoll sind. Wer dagegen alles ausblendet und weghört, läuft Gefahr, wichtige Entwicklungen zu spät wahr zu nehmen.