Messe, Top-Story: 15.06.2004

NAB2004: Die Zukunft ist weitgehend unbekannt

Dieses fast schon geflügelte Wort gilt natürlich weiterhin. Das stört aber während einer Messe nahezu Niemanden. Zumindest nicht auf der Anbieterseite, denn die verkauft dort in aller Regel (auch) die Zukunft, um das Geschäft in der Gegenwart positiv zu beeinflussen. So stellte sich während der NAB2004 immer wieder die Frage: Was ist Gegenwart und was ist Zukunft?

Es war wieder mal viel von der Zukunft die Rede, während dieser NAB. Was die meisten Anbieter aber damit meinen, das liegt noch eine Stufe weiter entfernt, als das, was die meisten Anwender unter Zukunft verstehen. Ein Beispiel: Sony und Panasonic zeigten, wie es mit XDCAM und P2 in den kommenden Jahren weiter gehen soll. Für die meisten Anwender aber ist auch die erste Welle dieser Systeme noch Zukunftsmusik.

Was passiert aber, wenn die Zukunft schneller eintrifft als erwartet und man dann nicht darauf vorbereitet ist? Diese Zukunft heißt auch für Europa aus der Sicht ganz vieler Insider HD und ist wiederum in den USA viel eher Gegenwart als Zukunft – ganz sicher nicht Flächen deckend, aber durchaus schon in etlichen Bereichen. Wenn also nun HD ein kommendes Thema auch für die alte Welt ist, dann mal los. Die wichtigsten aktuellen Infos von der Messe zu diesem Themenkomplex fasst ein Artikel zusammen, der in der Info-Zone als PDF-Datei zum Download bereit steht (»Es geht wieder was«).

HD war der Löwenanteil dessen, aber eben nicht alles, was während der NAB in diesem Jahr behandelt, vorgestellt und diskutiert wurde. So liegt neben vielen anderen Themen auch wieder mal der Wettkampf der Systeme an: Panasonics P2 und Sonys XDCAM kämpfen um Marktanteile und streben jeweils die Vorherrschaft bei den neuesten Videoaufzeichnungssystemen an. Zwar hatten beide Anbieter auch diese Themen vorsichtshalber mit der Vorstellung von Prototypen und Produktplänen an das Thema HD angebunden, die gegenwärtige Realität ist hier aber ganz klar der SD-Bereich: Weder XDCAM noch P2 können derzeit praktikabel für HD genutzt werden, beide bieten aber HD als Zukunftsoption an. Mehr dazu fasst ein separater Beitrag zusammen (»Zukunftsvisionen für XDCAM und P2«.)

Speicherchip oder Scheibe, MPEG-2 oder DV-Kompression, jeweils für SD-Signale, so heißt die Wahl, die in vielen Fällen aber nicht am grünen Tisch entschieden wird, sondern an Hand konkreter Geräte, aber auch auf der Basis bisheriger Systementscheidungen. Eins ist schließlich klar: Wer bisher gut mit Sony gefahren ist, der wird auch künftig eher geneigt sein, auf XDCAM zu setzen. Wer dagegen Geräte aus der DVCPRO-Familie von Panasonic angeschafft hat und zufrieden ist, der tendiert sicher eher in Richtung P2.

Spannend ist aber in diesem Zusammenhang, zu beobachten ob sich die Geschichte wiederholt. Das betrifft sowohl den Wettkampf zwischen Sony und Panasonic wie auch die Entwicklungen innerhalb der jeweiligen Produktpaletten. Hier stellen sich etliche Fragen, auf die man als Antwort momentan nur die übliche Marketing-Rhetorik abfragen kann. Deshalb beruhen die folgenden Betrachtungen nicht auf Hintergrundinfos und -gesprächen, sondern sind in weiten Teilen spekulativ, aber vielleicht gerade deswegen nicht uninteressanter. (Konkretere Informationen zu den einzelnen Prototypen, die Sony und Panasonic zur Messe zeigten, finden Sie im schon erwähnten Artikel »Zukunftsvisionen für XDCAM und P2«.)

Sonys Strategie stellt sich von außen betrachtet derzeit so dar: DVCAM und XDCAM bedienen zunächst weiter den bisherigen SD-Markt. Der besteht unter anderem aus Anwendern, die schon DV oder DVCAM nutzen, außerdem aus Beta-SP-Anwendern, die langsam unter Investitionsdruck geraten, aber teilweise auch aus Digi-Beta-Anwendern, die unter veränderten Marktbedingungen günstiger produzieren müssen. Die anspruchsvolleren unter den bisherigen Digi-Beta-Anwendern will Sony in Richtung HDCAM ziehen, das zeigt der neue Camcorder HDW-730 ganz deutlich (mehr zu diesem Gerät folgt weiter unten).

Wer den Schritt in Richtung HD gehen will oder muss, dem offeriert Sony mehrere abgestufte Systeme: HDCAM SR und HDCAM sind am oberen Ende der Ansprüche schon verfügbar. Am unteren Ende wird als nächstes HDV kommen und hier will Sony nach eigenen Angaben Brücken zu HDCAM bauen. Später soll dann noch XDCAM HD folgen.

Wo aber passt XDCAM HD hinein? Wird es im Jahr 2005 oder 2006, wenn XDCAM HD frühestens kommen soll, eine ausreichend große Lücke im Preisgefüge und in der Performance der Systeme geben, um XDCAM HD zwischen HDV und HDCAM zu platzieren? Oder wird XDCAM HD dann zum Totengräber von HDCAM und es bleibt nur das noch weiter oben angesiedelte HDCAM SR weiter bestehen? Schließlich ist HDCAM zu diesem Zeitpunkt das älteste der von Sony angebotenen HD-Formate.

Hier kann man gewisse Parallelen zur Situation sehen, die sich Sony mit der gleichzeitigen Existenz von DVCAM, Betacam SX, IMX und Digital Betacam selbst geschaffen hat. Die konnte der Hersteller zwar letztlich für viele ganz unterschiedliche Anwendergruppen jeweils zufrieden stellend lösen, das Ganze hat Sony aber viel Kraft gekostet.

Vieles, was hier skizziert ist, bleibt vorerst spekulativ, denn das Verhalten der Anwender einerseits ebenso wie die Preis- und Marktpolitik von Sony andererseits lassen sich einfach nicht verlässlich vorher sagen.

Wie sieht“s bei Panasonic aus? Auch wenn der Erfinder von P2 darauf verweist, dass P2 eine Evolutionsform und Erweiterung der existierenden DVCPRO-Familie mit noch höherem Potenzial sei: Fakt ist, dass P2 von den Anwendern ein größeres Umdenken bei den Arbeitsweisen und Abläufen erfordert, als das konkurrierende XDCAM-System. Das soll nicht heißen, dass das nicht funktionieren kann, der Blick in den Consumer-Bereich lässt sogar anderes vermuten: Hier hat die digitale Fotografie in weiten Bereichen des Fotomarktes innerhalb weniger Jahre einen Paradigmenwechsel vom chemischen Film zum computer-zentrierten Arbeiten mit Files geschafft.

Könnte gut sein, dass sich P2 im News-Bereich relativ rasch etablieren kann. Was aber ist mit HD? Bis etwa der von Panasonic avisierte D5-HD-Camcorder auf Speicherchip-Basis Wirklichkeit wird und auch vernünftiges, effektives Arbeiten erlaubt, wird ganz sicher noch ziemlich viel Zeit vergehen. Kann Panasonic so lange warten, bis am obersten Ende der HD-Palette eine portable Aufnahmelösung zur Verfügung steht? Denn auch wenn der Markt dafür von den Stückzahlen her klein ist, hat er nicht dennoch eine große Wirkung für die Wahrnehmung einer Produktpalette und eines Unternehmens durch bisher nicht angesprochene Zielgruppen? Ein Hinweis, darauf, dass Panasonic das im Grunde durchaus so sieht, ist die Vorstellung einer neuen Option für den D5-HD-Recoder, mit der es möglich wird, auch 2K-Filmdaten mit diesem Gerät auf zu zeichnen. (Mehr dazu steht in der PDF-Version dieses Artikels).

Ebenfalls, zumindest für den Profibereich, noch unbeantwortet: Wie stellt sich Panasonic zu HDV, das ja kurz vor seiner offiziellen Markteinführung steht? Wird nicht auch Panasonic, ganz ähnlich wie Sony, entscheiden müssen, wo die Entwicklungsressourcen am besten eingesetzt werden? Auch Panasonic hat ja mittlerweile einen breiten Fuhrpark an Systemen und Produkten im Profibereich zusammen: Bei DV feiert der Hersteller mit dem 25P-Camcorder DVX100A Erfolge (Test in der Info-Zone), dann folgen in der Produkt-Hierarchie DVCPRO, DVCPRO50, DVCPROHD, jeweils mit diversen Recordern und Camcordern. Als HD-Camcorder befindet sich darunter die Varicam mit variabler Bildrate. D5, HD-D5 und 2K-D5 kommen noch dazu. Kann das alles druckvoll weiter entwickelt werden, zusätzlich zu P2?

Eine weitere Einflussgröße: Sollte P2 auch nur annähernd so gut angenommen werden, wie sich die digitale Fotografie durchsetzte, und gehen gleichzeitig die Preise der Speicherchips so steil nach unten und die Kapazitäten so steil nach oben, wie Panasonic das prognostiziert, spätestens dann bieten auch andere ein vergleichbares speicherchip-basiertes System an. Das kann Sony sein, aber es kommen bei einem solchen System auch noch andere Anbieter in Frage, denn das Herrschaftswissen der Videobandtechnologie, das es Sony und Panasonic jahrelang erlaubte, den Profi-Videomarkt zu dominieren, ist dann Geschichte: Slots und Speicherchips können weit mehr Firmen produzieren, als tragbare Videorecorder. Sicher hat Panasonic einen Entwicklungs- und Marktvorsprung, wenn andere später nachziehen. Aber wird der reichen und werden alternative Systeme tatsächlich lange genug auf sich warten lassen?

Neue Gefahr für die etablierten Camcorder-Hersteller droht etwa durch Ikegami, einen Hersteller, der zwar um Größenordnungen kleiner ist als Panasonic und Sony, sich aber über viele Jahre behaupten konnte, auch unter erschwerten Bedingungen, wie sie etwa der Strafzoll bedeutet, den Ikegami für bestimmte Kameras noch immer bezahlen muss, wenn diese Geräte in die EU eingeführt werden. (Ein Grund dafür, weshalb Ikegami nun eine kleine Kameraproduktion in Großbritannien aufziehen wird, als Vollproduktion, nicht als reine Montage).

Ikegami kann nun – und plant das auch – einen HD-Camcorder bauen, der den von Avid entwickelten und frei verfügbaren HD-Codec (DNxHD, mehr dazu im Beitrag »Nachfolger für MPEG-2 gesucht«) verwendet und der damit komprimierte Signale auf eine Festplatte oder einen Speicherchip schreibt. Damit kann Ikegami also einen HD-Camcorder bauen, ohne Lizenzgebühren an Sony oder Panasonic bezahlen und/oder von diesen Herstellern ein Bandlaufwerk zukaufen zu müssen.

Zweifellos werden Sony, Panasonic und Thomson dem nicht tatenlos zusehen, zudem verfügen diese Unternehmen über große Markt- und Marketingmacht: Es dürfte also auf die eine oder andere Art Bewegung in diesen Markt kommen.

Nichts wird so heiß gegessen, wie man es kocht. Und das gilt eben auch für HD. HDTV wird auch in Europa auf breiterer Basis kommen. Zuvor schon wird HD in der Produktion eine ziemlich rasch wachsende Rolle spielen. Einer der Gründe dafür ist ganz banal: Die Branche braucht HD.

Ist es denn aber überhaupt erstrebenswert, alles in HD zu produzieren? Muss denn jeder kleine News-Beitrag in höchster Auflösung aufgenommen werden? Mal ehrlich: Sehr viele News-Beiträge und Reportagen, die täglich im Fernsehen laufen, bleiben ja weit weiter unter dem heute in SD technisch möglichen Qualitätsniveau. Und das stört ganz offenbar immer weniger der Zuschauer und der Verantwortlichen. Müssen unscharfe, verwackelte, ausgefressene Bilder, die praktisch ohne Weißabgleich aufgenommen wurden, unbedingt in HD vorliegen? Wahrscheinlich eher nicht. HD ist eine tolle Sache – wenn es gut gemacht ist. Vielleicht wird sich die Ko-Existenz von SD und HD so ähnlich darstellen, wie es auch im Print-Markt verschiedene Qualitätsniveaus gibt: Hochglanzmagazine drucken maximale Bildqualität auf hochwertigem Papier, aber es gibt eben parallel auch die Zeitungen, auf billigem Papier mit Bildern in vergleichsweise schlechter Qualität. Beides existiert seit Jahren parallel, weil jeweils unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt werden.

Downloads zum Artikel:

T_NAB04_Strategien.pdf

Autor
C. Gebhard, G. Voigt-Müller
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